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Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A Michener
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fremder Herren. Pilgerfahrten nach Jerusalem waren ihnen verboten. Aber die Gläubigen im geknechteten Norden behielten Davids Stadt als ihr irdisches Ziel im Herzen. »Länger als fünfzig Jahre hat Jerusalem vor meinen Augen gestanden«, sagte Gomer.
    »Ich fürchte, jetzt wirst du es nicht mehr sehen«, antwortete ihr Sohn spöttisch. »Nimm an, ich sagte heute abend: >Morgen früh gehen wir hinauf nach Jerusalem?««
    Rimmon lachte. »Wir haben kein Geld. Ich muß die Ölpresse warten, und du mußt das Kleid fertig nähen.«
    Gomer wußte es selbst, und so ließ sie voller Trauer ab von allen Vorsätzen, nach Jerusalem zu gehen. Aber am nächsten Morgen wurde sie im Davidsstollen zum drittenmal angehalten, und die Stimme sprach grollend wie ein Löwe: »Gomer, Witwe Israels! Zum dritten Male! Führe deinen Sohn hinauf nach Jerusalem, oder die Strafe wird deine Kindeskinder treffen bis ans Ende der Tage.« In der Dunkelheit antwortete sie demütig: »Ich will meinen Sohn nach Jerusalem führen. Aber darf ich noch verweilen, bis das weiße Kleid fertig ist?« Stille herrschte, als brauche die Erscheinung Zeit, diese demütige Bitte zu überdenken. Nach einer Weile sagte die Stimme: »Du bist eine Frau, die sich ihr Brot mit Nähen verdient. So ist es angebracht für dich, zuerst die Arbeit fertig zu machen und dann nach Jerusalem aufzubrechen.« Und damit schwieg Jahwe für dieses Mal.
    Es kostete Gomer zwei Tage fleißigster Arbeit, das Kleid zu vollenden. Als sie es der Tochter des Statthalters anlegte, sah das junge Mädchen schöner aus denn je. »Ich werde es beim Tanze tragen«, sagte sie aufgeregt. »Dann gehst du also nach Jerusalem?« fragte Gomer.
    »Vater hat sich dazu entschlossen. Es ist vier Jahre her, und als Statthalter.« Das Mädchen wurde ernst. »Glaubst du, daß die Ägypter wieder Krieg gegen uns führen?«
    »Die Assyrer und die Babylonier und die Ägypter und die Phönizier und die Aramäer«, sagte Gomer, während sie die letzten Fäden abschnitt, »sie alle führen ständig Krieg gegen uns. Dein Vater hat uns gut beschützt bisher, und ich freue mich, daß er nach Jerusalem geht, um mit den führenden Männern von Juda zu verhandeln.« Sie zögerte. »Würdest du ihn bitte fragen, ob er mich heute entlohnen könnte?«
    »Selbstverständlich!« sagte Mikal. Sie lief fort, ihren Vater zu suchen. Als dieser aber von der ungewöhnlichen Bitte der Witwe erfuhr, kam er mißvergnügt in den Nähraum. »Hat man in Jeremoths Haus je zu zahlen vergessen?« fragte er. Solche Worte hätten eine arme Witwe wie Gomer durchaus ängstlich machen können, denn der Statthalter war ein Mann, der Furcht einzuflößen vermochte - ein Mann mit kalten Augen, die gefühllos geblieben waren im Unglück wie im Triumph. Unter sieben verschiedenen Herrschern hatte er Makors Geschicke gelenkt, und dabei war er hart geworden, hart wie glitzernder Stein. Doch dieser Tag war kein gewöhnlicher Tag, und Gomer war keine gewöhnliche Frau mehr: Sie hatte von Jahwe den Befehl erhalten zu einer Tat, von der die Rettung der Welt abhing. Dieser Statthalter Jeremoth machte ihr nicht bange. Mit ihrer leisen Stimme sagte sie: »Ihr habt mich immer bezahlt, Herr. Aber morgen früh müssen mein Sohn und ich nach Jerusalem aufbrechen.«
    »Was?«
    »Dieses Jahr werden wir unsere Hütte in der Heiligen Stadt aufschlagen.«
    »Ihr?« fuhr es dem Statthalter heraus, dann fragte er: »Weiß Rimmon davon?«
    »Noch nicht, aber.«
    In belustigter Geringschätzung wandte sich der Statthalter von Gomer ab und schickte einen seinen Wächter aus, Rimmon von der Ölpresse zu holen. Als der Vorarbeiter ihm gegenüberstand, sagte Jeremoth: »Rimmon, deine Mutter sagt mir, daß du morgen früh nach Jerusalem gehst. Daß du meinen Olivenhain ohne Erlaubnis verläßt.«
    »Jerusalem?« wiederholte der junge Mann überrascht. »Ich habe nicht die Absicht.«
    Und nun kam der entscheidende Augenblick, dieser flüchtige Augenblick, der ausschlaggebend werden sollte für das Geschick der Stadt Makor während der kommenden Monate. Als Gomer sah, wie geringschätzig der Statthalter sie behandelte, als sie sah, wie wenig ihr Sohn gewillt war, ihr beizustehen, war sie fast versucht, ihren Vorsatz aufzugeben. Doch das Unerwartete geschah: Sie wollte ihre Worte zurücknehmen, aber es ging nicht - sie brachte die Worte einfach nicht über ihre Lippen. Statt dessen blickte sie dem Statthalter fest in die Augen und sprach mit leiser, sanfter, von einer nie zuvor

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