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Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A Michener
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war nicht völlig gesichert. Jetzt war offenbar, was die Erscheinung beabsichtigte: An Rabbi Ascher erging der Auftrag, den Rest seines Lebens nicht dem Bau einer irdischen Synagoge zu widmen, sondern der Sicherung des göttlichen Gesetzes. »HErr!« flüsterte bescheiden der kleine Rabbi. »Bin ich würdig, nach Twerija zu gehen?« Im Augenblick, da er den Namen aussprach, schloß sich das goldene Gitter in sich selbst, und er beugte das Haupt, um den himmlischen Auftrag anzunehmen. »Ich werde nach Twerija gehen«, sagte er.
    In der Mitte des vierten Jahrhunderts gab es in der römischen Stadt Tiberias, die von den Juden Twerija genannt wurde, eine lebendige, dreizehn Synagogen zählende Gemeinde, eine große Bibliothek und eine Versammlung älterer Rabbinen, die tagaus tagein zusammenkamen, um über die Thora, über alles mündlich Überlieferte und über alle späteren Auslegungen zu disputieren und so die Gesetze zusammenzutragen, die bindend sein sollten für das gesamte künftige Judentum. Stundenlang, tagelang und sogar monatelang erörterten die Schriftgelehrten jeden einzelnen Satz, bis seine Bedeutung geklärt war. Zu dieser Körperschaft machte Rabbi Ascher sich im Frühjahr 329 auf. Er hatte keine Veranlassung, sich zu eilen, denn die Versammlung tagte seit hundert Jahren und sollte noch anderthalb Jahrhunderte tagen, dann zwar nicht in Twerija, sondern in Babylonien jenseits der Wüste.
    Auf seinem weißen Maultier ritt Rabbi Ascher über die schönen Hügel Galilaeas und blickte über die breiten Ebenen, auf denen einst Ägypter und Assyrer gekämpft hatten. Er ritt in die Felsenstadt Zefat ein, die Josephus gegen die Legionen Vespasians befestigt hatte. Von ihrer Höhe aus sah er zum erstenmal Twerija, schimmernd die weißen Marmorgebäude vor den blauen Wassern des Sees. »Wenn irgendwo die Wahrheit zu finden ist«, sagte er zu seinem Maultier, »dann sollte sie dort unten zu finden sein.«
    Aus der Ferne gesehen, machte Twerija einen bezaubernden Eindruck. Denn die weitläufigen Bauten des Herodes Antipas hatten sie zur Rivalin von Caesarea werden lassen. Marmorstufen führten hinab zum See und zu den luxuriösen Bädern. Doch als Ascher in die Stadt einritt, sah er allenthalben Verfall, spürte er einen Hauch des Todes. In den letzten Jahrhunderten waren nur wenige neue Gebäude erstanden, und die alten zerfielen hinter ihren Marmorfassaden. So starb Rom in seinen fernen Provinzen. In Twerija warteten keine Wunder auf Rabbi Ascher, wohl aber konnte hier die Arbeit ehrlicher Männer gedeihen, und zu dieser Arbeit lenkte er seine Schritte.
    Er erkundigte sich, wo die Gelehrten sich versammelten. Die vier ersten Bürger von Twerija, die er fragte, wußten nicht einmal, daß die frommen und weisen Männer seit mehr als einem Jahrhundert in ihrer Stadt tagten; alle aber erklärten sich bereit, ihm zu sagen, wie er zu den heißen Bädern komme. Endlich begegnete er einem alten Juden, der ihn zu einem unscheinbaren Haus aus Lehmziegeln führte, in dem das große Werk geleistet wurde. Nachdem Ascher sein Maultier an einen Baum gebunden hatte, pochte er leise an die Tür. Aber nichts rührte sich. Er pochte abermals. Eine mürrische alte Frau, die aus der Küche gekommen war, ließ ihn ein und führte ihn durch das Haus in einen großen Hof mit zwei Granatapfelbäumen. Hier saß unter einem vielfach verzweigten Weinstock eng gedrängt ein Kreis alter Männer, die bei seinem
    Kommen nicht einmal aufsahen. Ihnen zu Füßen kauerten Jüngere, die den Worten der Alten mit Hingebung lauschten; unter einem der Granatapfelbäume saßen zwei Schreiber an einem Tisch und machten sich Aufzeichnungen über die Disputationen. War eine Entscheidung getroffen, so faßten die Schreiber das, was in Monaten erörtert worden war, in ein paar Kernsätzen zusammen, und dieses Ergebnis galt dann als Gesetz. An jenem Tag schrieben sie nur wenig, da vier Rabbinen in eine lebhafte Aussprache über eine Frage von geringer Bedeutung verwickelt waren.
    erster RABBI : Wir behandeln eine einzige Frage. Die Heiligung des Sabbat. Ich sage, der Mann darf ihn nicht tragen.
    ZWEITER RABBI: Sprich offen! Auf Grund welcher Autorität erhebst du diesen Anspruch?
    dritter RABBI : Höre zu. Rabbi Meir hat es von Rabbi Akiba: Eine Frau, die am Sabbat mit einer Flasche voll duftendem Wasser aus ihrem Hause geht, damit sie gut rieche, macht sich der Eitelkeit schuldig und entheiligt den Sabbat. Der Fall ist der gleiche.
    VIERTER RABBI: Ein weiterer

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