Die Quelle
annahmen, damit Menachem, ein strammer Junge mit festem Kinn, großen schwarzen Augen und bald schon hellem Verstand, wie seine Altersgenossen aufwachsen könne.
Sein Vater, das Kinn hängen lassend wie ein verschrecktes Tier, lungerte, wenn er sein Tagewerk vollbracht hatte, in der Stadt umher und wurde zum Anführer unzufriedener und pflichtvergessener jüngerer Männer von Makor. »Die Stadt ist nichts«, knurrte er. »Wenn ihr die Welt sehen wollt, wandert von Antiochia aus landeinwärts. Edessa! Die haben Wein in Edessa, den schmeck’ ich noch jetzt auf der Zunge. Persien! Ich war ein Narr, von Persien wegzugehen. Da gibt es Mädchen aus sechzehn verschiedenen Ländern, und die lieben jeden Mann, der ein bißchen Geld verdient.« So übte Jochanan schlechten Einfluß aus. Aber er durfte bleiben, weil er so geschickt mit dem Meißel umging.
Eines Abends sah sich Rabbi Ascher wieder einmal an, wie die Arbeit tagsüber vorangegangen war. Da wuchs also seine Synagoge gleich einer steinernen Blume aus dem Erdreich -der Rabbi war glücklich, durch den Bau dieser Stätte den Willen des HErrn gemäß der Erscheinung zu erfüllen. Dann erblickte er Jochanan, der allein bei den Steinen arbeitete und lässig an einem unbehauenen Kalkstein herumhämmerte. Als Rabbi Ascher sah, mit wieviel Meisterschaft der Steinmetz aus dem gestaltlosen Stein eine schöne Form schuf, sagte er: »Vermagst du jetzt zu verstehen, Jochanan, wie Hammer und Meißel des Gesetzes der Gestaltlosigkeit des Lebens Form geben?« Der große Mann schaute auf und schien flüchtig einen Schimmer dessen zu erhaschen, was der Rabbi zu erklären versuchte, doch der Funke erlosch - in der Zeit von zehntausend Jahren waren neunundneunzig von hundert aus dem Feuerstein geschlagenen oder dem Geist entsprungenen Funken kurz aufgeblitzt und erloschen.
Aber jetzt blickte Rabbi Ascher genauer hin, was sein Steinmetz machte: eine fortlaufende Reihe von Kreuzen, deren Arme im rechten Winkel geknickt waren, so daß jedes wie ein schweres eckiges Rad aussah, das mit dem nächsten verbunden war. Der Rabbi begriff sogleich, wie geeignet dieses Zeichen für einen Fries an der Innenwand der Synagoge sein mußte, denn die dem radähnlichen Gebilde innewohnende Bewegung regte das Auge an, von einem Punkt zum nächsten zu wandern.
»Vielleicht könnten wir eine ganze Reihe davon nehmen? Die Wand entlang?« wagte Ascher vorzuschlagen.
»Genau das habe ich mir gedacht«, knurrte der Steinmetz. »Was ist das?«
»Ich hab’s in Persien gesehen. Ein sich drehendes Rad.«
»Wie heißt es?«
»Swastika.«
Und so wurde dieses merkwürdige, in ganz Asien bekannte Zeichen recht eigentlich zum Symbol der Synagogen von Galilaea, denn alle Rabbinen, die zu Besuch kamen und den eindrucksvollen Swastika-Fries sahen, wollten ihn auch für ihre Gotteshäuser haben.
Die Synagoge wuchs, und Rabbi Ascher wurde darüber selbstgefällig; er ging sogar selbst in die Steinbrüche, um nur noch die besten Steine auszusuchen. Doch eines Tages, als er über die Landstraße zurückkehrte, spürte er, wie die Welt plötzlich still wurde, als seien alle Vögel davongeflogen. Ganz allein fühlte er sich. Es würgte ihn in der Kehle, und wie von einer Riesenfaust wurde er in die Knie gedrückt. Und da sah er, im Staube kniend, abermals das gleiche strahlende Licht, wie bei der ersten Erscheinung, die ihm geworden war, und wiederum erhellte es die Thora und das goldene Gitter, das sie beschützte. Diesmal aber war da nicht eine Kirche, sondern es waren deren viele, mit Türmen und Zinnen, und die Synagoge lag in Trümmern. Das ganze Werk, das Jochanan auf Rabbi Aschers Drängen vollbracht hatte, war - nur dies konnte die Erscheinung bedeuten - vergebens gewesen. Die Kirchen und die Trümmer verblaßten, bis nur die Thora und das Gitter übrigblieben, erhaben und unverwandelt, so blendend in ihrem machtvollen Glanz, daß Rabbi Ascher sich mit dem Gesicht auf die Straße warf, ein schmächtiger, schwarzbärtiger Jude, zu dem Gott sprach und der nun erkennen mußte, daß er damals den Willen des HErrn nicht verstanden hatte. »HErr,
Allmächtiger, was habe ich falsch gemacht?« flehte er und schlug mit dem Kopf in den Staub. Die einzige Antwort war das Strahlen der Thora und des Gitters. Aber da bemerkte der am Boden hingestreckte Grützenmacher etwas, das er bei der ersten Erscheinung übersehen hatte: Das die Thora umgebende Gitter war nicht ganz geschlossen, hatte eine Lücke. Das göttliche Gesetz
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