Die Quelle
verließ er verwirrt den Kreis. Hatten die Rabbinen die Absicht, ihn dauernd zu übersehen? Oder hatte er aus Eitelkeit den Befehl des Allmächtigen, sich ihnen anzuschließen, falsch gedeutet?
Auf der Suche nach einer Eingebung in dieser Sache begab sich Ascher dorthin, wo in Twerija der rechte Ort dafür war: Er stieg einen kleinen Hügel nordwestlich der Stadt hinan, bis er zu einer Höhle kam, die, schon damals eine heilige Stätte, im Verlauf der Jahrhunderte noch heiliger werden sollte: Hier war Rabbi Akiba begraben, der größte der Rabbinen und der Bewahrer des Gesetzes. An seinem Grabe saß Rabbi Ascher, in Demut die Hände gefaltet, und hoffte, der große Rabbi, der vor fast zweihundert Jahren den Märtyrertod gestorben war, würde ihm in seiner gegenwärtigen Notlage eine Weisung zukommen lassen. Aber es erfolgte keinerlei Weisung. Das mochte seinen Grund haben. Denn einen Beweis dafür, ob die Höhle tatsächlich die Gebeine des jüdischen Meisters der Lehre barg, gab es nicht; genau wie die Kaiserin Helena bei ihrem Zug durch das Heilige Land recht willkürlich festgelegt hatte, wo die verehrungswürdigen Stätten des Christentums sich befänden, so hatten fromme Juden ein für alle Mal erklärt, wo sich das heilige Geschehen ihres Glaubens abgespielt habe. Manche der großen Männer sollten in Zefat begraben worden sein; Rabbi Meir und Rabbi Akiba, so hieß es, ruhten dagegen in Twerija. Und seitdem pilgerten die Juden zu den Stätten, die als ihre Gräber galten, und so blieb es bis auf den heutigen Tag.
Doch obwohl Rabbi Ascher keine Weisung des großen Rabbi erhalten konnte, erlebte er etwas nicht minder Bedeutsames. Vor der Höhle sitzend, betrachtete er, wie die Sonne Abschied nahm vom See und von der Stadt Twerija. Das Farbenspiel des Sonnenuntergangs auf den Bergen im Osten, dieses wunderbare Ineinander von Grau, Purpur und Gold über den grasigen Feldern war so überwältigend, daß er die Gegenwart des Allmächtigen noch stärker empfand als im Olivenhain. Ganz und gar ergab sich Rabbi Ascher dem Willen des HErrn, was immer Er mit seinem Aufenthalt in Twerija beabsichtigen mochte. In diesem Zustand der Entrückung, während die Marmorstadt in der einfallenden Dämmerung verblaßte, fuhr ein Wind von Norden her ins tiefe Tal hinab und kräuselte die Wasseroberfläche, als wandle eine Gestalt über die Wellen. Verzückt blickte Ascher auf die Bewegung der riesigen Schritte: Sie kamen geradewegs auf Twerija zu und schienen den breiten Marmorkai am Seeufer zu erklimmen - was immer dort die Wasseroberfläche aufgewühlt hatte, es war in der Stadt eingekehrt. Beruhigt und beglückt zugleich stieg Rabbi Ascher vom Hügel mit dem Grab des Rabbi Akiba hinab nach Twerija, entschlossen dort zu bleiben, bis die Rabbinen ihm Beachtung schenkten.
Auch am fünften Tag änderte sich nichts. Wieder stand er stumm an der Mauer und lauschte, während die Weisen ihre Dispute über den Goldzahn weiterführten. Und während der ganzen zwei Wochen, die man ihn warten ließ, blieb der Goldzahn das einzige Thema. Doch daß er die Rabbinen bei ihren scharfsinnigen Gesprächen beobachten konnte, hatte eine heilsame Wirkung: Er lernte, eine wie ernste Sache das Auslegen der Gesetze war und welche gewaltige Gelehrsamkeit, welch ungewöhnliches Denkvermögen es erforderte. Er begriff, daß sie bei ihrem Versuch, das so überspitzt anmutende Problem des falschen Zahnes zu lösen, ganz von selbst alle weniger wichtigen Streitfragen zwischen Nützlichkeit einerseits und Eitelkeit andererseits entschieden. Während er still im Schatten stand, erinnerte er sich des alten Wortes, daß der wahre Rabbi »ein Korb voller Bücher« sei; und er gelobte sich, mit Scharfsinn und Weisheit zu antworten, sobald die Weisen von Twerija ihn endlich befragen sollten.
Am neunzehnten Tag - die Gesetzeslehrer waren sich inzwischen ziemlich einig darüber geworden, daß ein Mann, der am Sabbat einen Goldzahn trug, sich eines Vergehens schuldig mache, und überlegten die Fassung eines Gebotes, nach dem ein Zahn aus Stein oder Holz erlaubt sei - wandte sich plötzlich ein Rabbi, der eine Aussage über die dem Menschen angeborene Eitelkeit machen wollte, zu Rabbi Ascher um und fuhr ihn an: »Du da, aus Makor: Was hat Rab Naaman gesagt?«
Leise, ohne aus dem Schatten hervorzutreten, erklärte der Grützenmacher: »Rab Naaman seligen Angedenkens hat gesagt: >Warum erschuf der Allmächtige den Menschen erst am sechsten Tag? Um ihn zu warnen. Wenn
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