Die Quelle
vielschichtiges, schwer zu übersehendes, durchgeistigtes Abbild des tätigen Glaubens der Juden erstand. Dieser Talmud war es, der das Gitter um die Thora bildete und das Gesetz des HErrn vor unbeabsichtigter Verletzung schützte. Der Allmächtige hatte nur gesagt: »Gedenke des Sabbat«; die Rabbinen aber hatten ihr Gitter weit um den Sabbat herum aufgestellt, um die Heiligung dieses Tages durch eine Vielzahl von Gesetzen zu sichern. Mit diesem heiligen Werk, das Gitter des Talmud zu errichten, sollte Rabbi Ascher den Rest seines Lebens verbringen. Dies aber besagte keineswegs, daß er ständig in Twerija weilte und sich nur noch mit Erörterungen der Gesetzeslehre befaßte. Wie seine Amtsbrüder, die Rabbinen aus Kefar Nachum und Kefar Birim, sorgte er sich weiter um seine Heimatgemeinde, und da er zudem ein Weib und drei unverheiratete Töchter hatte, mußte er darauf achten, daß seine Grützenmühle Gewinn abwarf. Deshalb bestieg er zu jeder Erntezeit sein weißes Maultier und ritt durch die Wälder Galilaeas zurück in die kleine Stadt, um Weizen einzukaufen. Und immer wieder war es für ihn ein beglückender Augenblick, wenn er sein Maultier den Hang nach Makor hinauflenkte, um seine Familie zu begrüßen und nach seiner Mühle zu sehen. Voll inniger Freude erlebte Rabbi Ascher am Ende jeder solchen Reise die Zurückgezogenheit seines Heims; müde und staubig, wie er war, eilte er, seine Frau und die Kinder zu umarmen. Die jüngste Tochter warf er hoch in die Luft und fing sie wieder auf, während sie vor Freude quietschte, den Vater wieder bei sich zu haben. Mit den Seinen sang er Psalmen und Volkslieder. Und wenn die Mahlzeit aufgetragen wurde, trat er ans Kopfende des Tisches, blickte auf seine Familie und betete glücklich: »Heiliger, gelobt seist Du! Die Reise ist zu Ende, und ich bin wieder bei denen, die ich liebe.«
Sobald er jedoch allein war, stellte er sich demütig in eine Ecke seines kleinen Zimmers, wandte sich in tiefem Ernst an den Allmächtigen und dankte Ihm feierlich dafür, daß Er die Familie gesund erhalten hatte. Wenn er so betete, kam es wie Raserei über ihn, er beugte sich in der Hüfte nach links und rechts, er lief nach vorn, um dem Ewigen zu begegnen, und zog sich aus Ehrfurcht wieder zurück. An manchen Stellen seines Gebets warf er sich zu Boden, so daß der Staub aufwirbelte, und dann erhob er sich wieder, um sich von neuem zu verneigen. Am Ende seines ausgedehnten Gebets hatte der kleine Mann in seiner Verzückung den ganzen Raum durchquert und vielleicht halbwegs wieder zurück. Sein Verhalten beim Gebet entsprach seiner Wesensart: »Wenn ich in der Synagoge bin und für andere bete, halte ich die Gebete kurz, damit meine Brüder nicht ermüden. Aber wenn ich allein bin mit dem Heiligen, gelobt sei Er!, kann mein Gebet nicht lang genug sein.«
Schnell sprach es sich in Makor herum, daß der Rabbi wieder zu Hause war, und schon bald kamen viele zu ihm mit der Bitte um Rat oder Almosen. Im Verkehr mit denen, die Rat suchten, befolgte Ascher eine Regel, die er während der Disputationen in Twerija oft vertreten hatte: »Verfahre milde mit anderen, mit dir selbst aber streng.« Und er tat, was er konnte, um das harte Los der Bauern zu lindern. Denn die Steuereinnehmer waren brutal und die byzantinischen Söldner grausam. Wenn es um das Geben von Almosen ging, ließ er sich von der eindeutigen Vorschrift des Rab Naaman von Makor leiten: »Ein Mensch, der den Armen nichts geben will, ist ein Tier« - weshalb in manchen Jahren der Gewinn, den seine Mühle hätte abwerfen können, dahinschmolz wegen der Grütze, die er verschenkte. Was die Art und Weise anbetraf, wie einer Almosen geben soll, so hatte er eine Regel aufgestellt, die in den Talmud aufgenommen wurde: »Sorge für den Leib deines Nächsten und für deine eigene Seele.« Selbst noch der schlimmste Trunkenbold konnte ihn um Nahrung bitten: Rabbi Ascher gab ihm zuerst zu essen, betete für ihn und schickte ihn dann wieder fort. »Vorhalte wegen seines üblen Lebenswandels soll man auf einen anderen Tag verschieben«, erklärte er. »Wohltätigkeit und Ermahnung dürfen nicht miteinander vermengt werden.« Wo immer er in der Gemeinde sich zeigte, versuchte er, Freude zu verbreiten. Den Müttern sagte er, ihre Söhne würden gewiß Gelehrte werden, den jungen Mädchen versicherte er, sie bekämen bestimmt einen Mann, und die Bauern ermunterte er, sie sollten auf ein gewinnbringendes Jahr hoffen. Eine Lehre der Mischna
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