Die Quelle
anzunehmen, daß der Allmächtige eine von ihnen bevorzugte. Aber welche? Niemand wußte Genaues.
Der Rabbi von Kefar Birim, der Stadt mit der schönsten Synagoge Galilaeas, entsann sich, daß im Buche Bemidbar -dem Vierten Buch Mose - der HErr den Mose direkt gefragt hatte: »Wie lange soll es noch dauern, daß diese nichtswürdige Gemeinde gegen Mich murrt?« Gewiß - diese Worte des HErrn bezogen sich auf eine »nichtswürdige« Gemeinde, aber es war immerhin eine, die der HErr Selbst als Gemeinde bezeichnet hatte. Die Rabbinen gingen der Stelle in der Heiligen Schrift nach und fanden, daß damit jene zwölf Männer gemeint waren, die Mose als Kundschafter ins Land Kanaan gesandt hatte: »Und der HErr redete mit Mose und sprach: >Sende Männer aus, die das Land Kanaan erkunden, das Ich den Kindern Israel geben will, aus jeglichem Stamm ihrer Väter einen vornehmen Mann...<« Und aus dem Vergleich der beiden Texte folgerten die Rabbinen, daß der Allmächtige mindestens zwölf Männer gemeint hatte, als er von einer Gemeinde sprach. Doch nun wies der Rabbi von Kefar Nachum darauf hin, daß von den zwölf Nichtswürdigen, die gegen den HErrn gemurrt hatten, einer entschuldbar sei, Kaleb vom Stamme Juda, denn er war gegen jene aufgetreten, die gemeint hatten, man könne das Land Kanaan nicht erobern, wie in der Schrift zu lesen stand: »Kaleb suchte nun den Unwillen des Volkes gegen Mose zu beschwichtigen, indem er ausrief: >Laßt uns hinaufziehen und das Land einnehmen; denn wir können es überwältigen...«« Demnach war elf die für eine Gemeinde passende Zahl. Da aber entdeckte Rabbi Ascher, daß von den elfen noch einer, Josua vom Stamme Ephraim, entschuldbar war, weil er für den HErrn gesprochen hatte: »Das Land, das wir durchwandelt haben, es zu erkunden, ist sehr gut. Wenn der HErr uns gnädig ist, so wird Er uns in das
Land bringen und es uns geben, ein Land, darin Milch und Honig fließt.« Somit hatte die - wenn auch nichtswürdige -Gemeinde zwölf Männer abzüglich Kaleb und Josua gezählt: Zehn war also die erforderliche Zahl! Und so entstand die berühmte Zusammenfassung: »Der Heilige, gelobt sei Er!, ist bereit, mit zehn Straßenkehrern zusammenzutreten, nicht jedoch mit neun Rabbinen.« Aber schon erhob sich eine neue Frage: Wer als »Mann« zu betrachten sei. Nach jahrelanger Beratung wurde festgelegt, daß als Mann jeder Knabe mit vollendetem dreizehnten Lebensjahr zu gelten habe. Seither war kein jüdischer Gottesdienst mehr möglich ohne die Gegenwart von zehn Männern im Alter von mehr als dreizehn Jahren. Auf diese ungemein geduldige, ungemein verwickelte und nicht selten auch sehr willkürliche Art knüpften die großen Rabbinen das Netz, in dem der Allmächtige Sein auserwähltes Volk festhalten wollte. Jedes Wort der Thora, ja später sogar jeder Punkt, der einen Vokal angab, wurde geprüft und gedeutet. Ein einziger Begriff der Mischna konnte die Rabbinen ein volles Jahr lang beschäftigen, und die Gemara sollte nach ihrer Vollendung weitere anderthalb Jahrtausende lang immer aufs neue ausgelegt werden, so daß der Talmud zu einem unerschöpflichen Werk des Wissens und der Weisheit wurde, das ein Mensch Tag um Tag seines Lebens mit Gewinn studieren konnte, selbst wenn er, wie Mose, hundertundzwanzig Jahre alt wurde.
Im Jahre 335 ritt Rabbi Ascher wieder einmal heim nach Makor. Nachdem er die Seinen begrüßt hatte, begab er sich, wie gewöhnlich, zur Synagoge. Ahnungslos trat der kleine Rabbi zum Tor hinein, um sich von den Fortschritten zu überzeugen, und sah nun, was Jochanan aus eigenem Entschluß getan hatte: In zwei Reihen zogen sich
Marmorsäulen durch das Innere und verliehen mit ihrer Schönheit dem ernsten Raum etwas Heidnisches. »Woher hast du sie?« fragte der Rabbi argwöhnisch den wie immer mürrischen Steinmetz.
In der Angst, der Rabbi könne ihn rügen, brummte Jochanan: »Mein Sohn Menachem... er hat gehört, was die alten Leute erzählen. von Geheimnissen in der Erde.« Er zögerte. »Säulen aus Gold haben sie gesagt.«
»Dein Sohn? Hat er sie gefunden?«
Verlegen knurrte der Steinmetz: »Die anderen Kinder wollen ja nicht mit Menachem spielen. Und so ging er graben. dort drüben. Dabei hat er das Ende einer Säule freigelegt. Sie war nicht aus Gold.« Damit schwieg er - etwas besorgt auf die Worte des Rabbi wartend.
Rabbi Ascher sah sehr wohl, daß die Säulen heidnisch waren und daß man ihre schimmernden Farben nur als Zierat bezeichnen konnte. Schon
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