Die Quelle
hatte ihm stets besonderen Eindruck gemacht, jene, die da sagt: »Im künftigen Leben wird jedermann gefragt werden, warum er sich der Freuden des Lebens enthalten hat, zu denen er berechtigt war.« Singen, Tanzen, mäßiger Weingenuß, Feste mit den Freunden, Spiele für Kinder und junge Leute, das Werben um die Geliebte im Frühling und das Liebkosen der Kinder - all das brachte, wie Rabbi Ascher sagte, Freude in den Alltag. Und wer mit ihm zu tun hatte, fand jederzeit Grund zum Lachen.
Dann aber, wenn der Rabbi seine Arbeit an der Mühle wieder aufnahm und er Säcke voll Weizen schleppen mußte, überkam ihn Bedauern - nicht der Arbeit wegen, die er gern leistete, sondern deshalb, weil er bisher noch niemanden gefunden hatte, der ihn in seiner Abwesenheit so vertrat, daß er zufrieden sein konnte. Er hatte es mit mehreren Männern versucht, aber sie waren nicht so ehrlich gewesen, wie er es forderte, und deshalb quälte sich sein Geschäft dann, wenn er abwesend war, unter der Aufsicht seiner Frau gerade so weiter und warf nur die Hälfte dessen ab, was an Gewinn möglich gewesen wäre. Auch seine Hoffnung, die beiden Schwiegersöhne würden sich der Arbeit annehmen, hatte getrogen, so daß er jedesmal, wenn er nach Twerija zurückkehrte, vor der betrüblichen Tatsache stand, noch immer keinen Grützenmacher gefunden zu haben. Das war um so bedauerlicher, als schon Aschers Vorfahren ein Verfahren ersonnen hatten, das seine Grütze besonders beliebt machte: Wie die anderen Grützenmacher nahm auch er Vollreifen Weizen und kochte ihn in Wasser, fügte jedoch Salz und Kräuter hinzu und goß das Wasser nach dem Kochen nicht weg, wie die anderen es taten, sondern ließ den Weizen in der Sonne stehen, bis er das Wasser aufgesogen und alle Nährstoffe, die sonst fortgespült worden wären, wieder aufgenommen hatte; außerdem ließ Ascher auch seinen Weizen mindestens eine Woche länger in der Sonne trocknen, als es sonst üblich war, so daß die Grütze, wenn sie schließlich fein geschroten aus der Mühle kam, einen angenehmen Geschmack hatte, den alle schätzten. Kein Wunder also, daß ein griechischer Händler zu Rabbi Ascher sagte, als dieser wieder einmal nach Twerija aufbrach: »Rabbi, warum treibt Ihr so albernes Zeug mit den weißbärtigen Alten? Das Gesetz aufschreiben kann schließlich jeder. Aber gute Grütze machen, das kann nur ein von Gott Auserwählter.« Es ist ein Jammer, dachte Ascher, daß ich keinen Helfer habe.
Um so größer war die Freude, als seine Frau ihm im Winter des Jahres 330 verkündete, sie sei wieder schwanger, obgleich sie das normale Empfängnisalter bereits überschritten hatte. Rabbi Ascher sah darin ein Zeichen des HErrn: Er sollte nun doch noch den Sohn bekommen, der die Mühle erben konnte. Freudig ging er in der Stadt umher, nun schon ein Mann von achtundvierzig Jahren, dessen Bart grau wurde, und erzählte seinen Freunden: »Da könnt ihr sehen, es geht schließlich alles gut aus. Fünf Töchter nacheinander - da muß das letzte Kind doch einfach ein Junge werden.« Mattathias, »Geschenk Gottes«, wollte er ihn nennen, und mitunter, wenn er auf der Straße von seinem Sohn sprach, fingen seine Augen an zu tanzen, und nur mit Mühe konnte er seine Füße davon abhalten, desgleichen zu tun. »Der Allmächtige, gelobt sei Er!, hat ihn mir gesandt«, behauptete der kleine Rabbi. Im Herbst aber schenkte seine Frau einer sechsten Tochter das Leben. Sie wurde Jael genannt.
Niedergedrückt bestieg Rabbi Ascher sein weißes Maultier und ritt nach Twerija. Dort, unter dem Weinstock, nahm er nun wieder an den Überlegungen und Disputationen teil. Gerade die Interpretationen während der neun Jahre von 330 bis 338 sollten für alle Juden besonders wichtig werden, denn die Gesetzeslehrer beschäftigten sich hauptsächlich mit dem einen Satz der Thora, den der Allmächtige zum erstenmal im Zweiten Buch Mose ausgesprochen und dann warnend noch zweimal wiederholt hatte, da Er diesen Satz offenbar für sehr wesentlich hielt: »Du sollst das Böcklein nicht kochen in seiner Mutter Milch.« Mehr hatte Er darüber allerdings nicht gesagt. Möglicherweise wünschte der HErr, daß ein Mutterschaf nicht gequält werden solle - mußte nicht das Wissen, daß sein Junges in der eigenen Milch gekocht wurde, seinen Schmerz verdoppeln? Oder aber war das Verbot erlassen worden, weil die Kanaaniter des Nordens es so machten und weil alles, was ein Kanaaniter tat, zu meiden war? Wie dem auch sein mochte -
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