Die Quelle
sich heraus, daß sie immer noch nicht präzise genug war. Sie verbot zwar neununddreißig »Hauptverrichtungen«, doch es entstanden ja immer neue Arten von Verrichtungen, und deshalb wurden neue Regelungen notwendig. Darum prüften die Rabbinen jeden Begriff abermals in dem Bemühen, dem dehnbaren Wort jeweils die größtmögliche Anzahl von Verrichtungen unterzuordnen. Bei diesem Auslegen und Kommentieren der Mischna-Texte kamen sie nicht selten auf Interpretationen, die Meisterstücke an dialektischem Scharfsinn waren. So erhob sich zum Beispiel während des ersten Monats, den Rabbi Ascher - nun als einer der Ausleger des Gesetzes anerkannt -im Kreise der Männer unter dem Weinstock verbrachte, die Frage, was alles zur verbotenen Verrichtung des Säens gehören könne. Ein alter Rabbi, der Erfahrung als Bauer hatte, vertrat die Meinung, daß zum Säen solche Nebenverrichtungen wie
das Beschneiden von Bäumen, das Verpflanzen von Sämlingen und das Pfropfen gehörten. Rabbi Ascher sagte dazu: »Pfropfen ist einwandfrei das gleiche wie Säen und daher verboten; das Beschneiden von Bäumen aber ist einwandfrei das Gegenteil von Säen, denn es ist eher Wegnehmen als Pflanzen.«
Der Andere antwortete: »Höre mir zu. Warum beschneidet ein Mann seine Bäume? Um neuem Wachstum Raum zu geben, damit es also sprießt. Somit ist das Beschneiden gleich dem Säen.«
Rabbi Ascher mußte zugeben: »Du hast es klargestellt. Beschneiden ist ebenfalls verboten.«
Ein ganzes Jahr verging allein mit Disputen über Fragen der Landwirtschaft und über die Arten von Landarbeit, die am Sabbat nicht verrichtet werden durften. Nach der Methode jenes alten bäuerlichen Rabbi, der dargelegt hatte, daß Beschneiden das gleiche sei wie Säen, gelangten die Gesetzeslehrer von Twerija zu so verblüffenden Schlußfolgerungen wie der, daß das Auffüllen eines Grabens das gleiche sei wie Pflügen, oder der, daß das Ausheben einer Grube nahe einem Haus das gleiche sei wie Bauen, da ja später einmal über der Grube ein Bau erstehen könne.
Rabbi Ascher brachte die Disputierenden auf die Erörterung dessen, was in das Verbot des Mähens einbezogen werden könne: »Wir haben gehört: Garbenbinden, Drahtziehen und das Behauen von Steinen, die zu einem Bau dienen, sind das gleiche wie Mähen. Rab Naaman hat gesagt, diese Verrichtungen seien verboten.«
Ein Rabbi, der im Baugewerbe tätig war, antwortete: »Ich weiß von Rabbi Jona und dieser von Meir und dieser von Akiba: Das Behauen von Steinen ist das gleiche wie Pflügen. Es ist bereits verboten.«
Hin und her gingen Rede und Widerrede, während die Rabbinen des Lebens lose Fäden zusammentrugen und endgültig miteinander verknüpften. Im dritten Jahr riefen sie einen Seemann aus Ptolemais herbei, um jene dunkle Stelle der Mischna zu diskutieren: »Das Knüpfen von Knoten und das Lösen von Knoten am Sabbat ist verboten.« Was genau enthielt die Tätigkeit des Knotenknüpfens, fragten sie, und auf welche anderen menschlichen Verrichtungen mußte sich dieses Verbot erstrecken? Der Seemann zeigte, woraus das Knotenschlagen bestand, und nach zwei Monaten der Erörterungen schlug Rabbi Ascher folgende allgemeingültige Bestimmung vor: »Jedes Verbinden zweier Dinge derselben Art ist das gleiche wie das Knüpfen eines Knotens. Also darf ein Mann am Sabbat nicht Trauben in eine Kelter tun, die schon Trauben enthält, denn das bedeutet einen Knoten machen.« Ein Rabbi, der aus Babylonien zu Besuch gekommen war, wo ähnliche Erörterungen unter den dortigen Juden stattfanden, fragte: »Warum nicht einfach sagen, Knoten wie sie Kameltreiber, Eseltreiber und Matrosen knüpfen?« Ein alter Rabbi sagte: »Ich habe von Rabbi Zumzum gehört, der es von Rabbi Meir hatte, daß kein Mann wegen eines Knotens, der mit einer Hand gelöst werden kann, für schuldhaft gehalten werden soll.« Die Erörterung schritt Tag um Tag voran, und jeder der großen Interpreten gab seine eigene Meinung kund. Ihre Erläuterungen und Kommentare wurden zusammengefaßt unter dem Namen Gemara. Und als sie nach zweieinhalb Jahrhunderten der Dispute in Twerija und Babylonien ihr Werk getan hatten, war aus Mischna (»Wiederholung«) und Gemara (»Vollendung«) der Talmud geworden, die »Lehre«, ein riesiges Sammelwerk von unerschöpflichem Gedankenreichtum, das seinerseits wieder von Raschi und Maimonides und nach ihnen von weiteren Gelehrten geringeren Scharfsinns interpretiert und kommentiert wurde, so daß schließlich ein
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