Die Quelle
betrachten. Am nächsten Morgen jedoch, als er sich nach Makor aufmachte, blickte er flüchtig hinüber zum See Kinneret. An seiner Westküste sah er zum letztenmal Twerija, die schöne Stadt, geschmückt von Herodes Antipas, geheiligt durch die Geburtswehen zweier Religionen, Zuflucht aller, die stille Nächte liebten - die Stadt, wo Jesus übernachtet hatte und Rabbinen scharfsinnig das Gesetz auslegten, wo Petrus gefischt hatte und der große Rabbi Akiba begraben lag, wo sanft am Ufer die Wellen flüsterten und der Talmud geboren ward: Twerija, Twerija. Einige Augenblicke ließ Rabbi Ascher sein Maultier halten. Und während er auf das Grauweiß der Stadt hinabschaute, in der er so lange gearbeitet hatte - wie geistreich, wie erhebend, aber auch wie freudig waren die Gespräche gewesen! -, ging ihm der unfrohe Gedanke durch den Kopf, daß er, der nun bereits neunundsechzig Jahre zählte, eines Tages zu alt sein werde, diese vielen Reisen hin und her auf sich nehmen zu können. Woher hätte er wissen können, daß nicht das Alter und nicht schwindende Kräfte ihn hindern würden, sondern eine unaufhaltsam sich mehrende Macht, deren er sich bisher noch nicht so recht bewußt geworden war. Dorthin, wo er diese Macht zu spüren bekommen sollte, lenkte er jetzt sein Maultier. Das Tier schüttelte sich und setzte sich in Trab. Der Grützenmacher blickte nach vorn. Twerija lag hinter ihm.
Der an diesem Sommertag durch die stillen Wälder Galilaeas reitende Rabbi Ascher ha-Garsi war gleichsam ein Musterbeispiel dessen, was der Allmächtige beabsichtigt hatte, als Er die Rabbinen dazu berief, Sein Volk durch die drohend heraufziehenden Jahrhunderte der Dunkelheit zu führen. Dieser kleine, zähe, dürre alte Mann mit dem weißen Bart und den freundlich-traurigen blauen Augen, dieser Nachkomme einer ganzen Geschlechterreihe von Juden, die in Makor oder nahe bei Makor gelebt hatten, trug in sich das Erbe von ägyptischen Kriegern, die bei Makor gekämpft, von langnasigen Hethitern, die als Söldner gedient hatten, von Phöniziern, die, aus Tyros und Sidon kommend, längs der Küste herabgezogen waren, und von Römern und Griechen, die sich mit Mädchen von Makor verheiratet hatten. Rabbi Ascher hielt sich gern für einen echten Juden, und er war auch einer - wie siebzehnhundert Jahre später die am selben Ort wohnenden Kibbuzniks, die wie Russen oder Deutsche oder Amerikaner oder Araber aussahen, echte Juden waren -, denn dieses Judesein erforderte ein geistiges Erbgut und nicht ein körperliches. Rabbi Ascher hatte, da er ein Abkömmling der seit grauer Vorzeit in Makor lebenden Sippe des Mannes Ur war, seinem Wesen nach gewissermaßen als halber Kanaaniter und halber Habiru begonnen (obgleich kein Mensch jemals zu sagen vermag, was derlei Bezeichnungen eigentlich bedeuten), aber er vereinigte in sich auch das Wesen all der vielen anderen Rassen, Stämme, Völker, die von diesen beiden so lebenskräftigen Völkern im Lauf der Jahrtausende aufgesogen worden waren. Kurz: Er war ein Jude.
Das weiße Maultier suchte sich seinen Weg unter den Baumkronen, die sich wie ein grünes Dach über der Straße schlossen. Sommervögel kamen aus den Schatten geflattert und grüßten den vorüberziehenden alten Mann. Ascher lächelte. Er dachte an einen der mehr irdischen Dingen geltenden Aussprüche Akibas: »Als ihre Liebe stark war, genügte ihnen eine Schwertschneide als Lager. Jetzt aber, da sie auf die Liebe vergessen haben, können sie auf einem vierzig Ellen breiten Bett nicht glücklich sein.« Er erinnerte sich auch des Inbegriffs allen Nachdenkens über das menschliche Dasein, wie Rabbi Akiba ihn seinen Schülern vermittelt hatte: »Mein Lehrer Elieser sagte mir, daß ein Jude, der das rechte Leben führen will, nur eine Regel beherzigen müsse: >Bereue am Tag vor deinem Tode.< Und da kein Mensch weiß, wann er sterben wird, tut er klug daran, an jedem Tag ein Leben wahrer Reue zu führen.« Rabbi Ascher hatte sich immer bemüht, so zu leben, als werde er am nächsten Morgen tot sein.
Als der Alte sich seiner kleinen Stadt näherte, sah er, daß byzantinische Arbeiter, wie er schon vermutet hatte, beim Olivenhain kleine Häuser bauten. Einige waren sogar schon fertig. Hier also sollten die durch die zu errichtende Basilika verdrängten dreißig Familien neu angesiedelt werden! Ascher hoffte, daß der Umzug ohne Zwischenfall vonstatten ging, und trat seinem Maultier in die Flanken, damit es den Weg zum Stadthügel schneller
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