Die Quelle
Morgen verließ er Gretsch. Aber als er seine Familie zum letztenmal durch das Eisentor führte, blickte seine Rebbezin sehnsüchtig zu den kleinen Kindern zurück, die weinten, weil sie von ihnen ging. Und gleich allen jüdischen Müttern, die das Ghetto verließen, das sie erträglich zu machen versucht hatten, klagte sie: »Unsere kleine Gasse. Welch ein Königreich der Liebe war sie doch!«
Als die Familie des Elieser bar Zadok an die deutsche Grenze kam, wurde sie von einer Schar Berittener überholt. Den Reitern fiel die Schönheit Leas und der nun fast elfjährigen Elischewa auf, und so belästigten sie die beiden. »Auf, nehmen wir uns die Judenweiber vor!« brüllten sie. Der Rabbi und sein Sohn mußten ihre Frauen verteidigen. Es kam zu einem schweren Kampf, die Reiter hieben mit ihren Peitschen auf die vier Juden ein und schlugen Lea nieder. Als Elieser sein Weib fallen sah, stürzte er auf einen der Angreifer, packte ihn am Bein und versuchte, ihn vom Pferd zu reißen. Die anderen machten sich hastig davon; die Hufe ihrer Pferde verletzten die am Boden liegende Lea so schwer, daß sie starb. Der Rabbi begrub seine Frau und führte seine Kinder nach Ungarn. Nie zuvor hatte er größeres Leid erfahren müssen.
In Ungarn erkrankte des Rabbis Sohn. Elieser hatte kein Geld, Heilmittel zu kaufen. So starb auch der Knabe. Nach langer Zeit aber gelangten der Gelehrte und seine Tochter Elischewa nach Safed.
...Der Tell
»Großer Gott«, rief Cullinane, als er aus dem Schlaf aufschreckte und feststellte, daß es drei Uhr morgens war und er bolzengerade im Bett saß. Er war in Schweiß gebadet, und die Vision von den zwei Bäumen, die er gehabt hatte, stand noch so klar vor ihm wie die Sterne, in deren Schein sein Zelt lag. Den ersten Baum hatte er als Major Cullinane gesehen, damals, gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, als er mit seinem Bomber auf dem Luftwaffenstützpunkt Atsugi in Japan lag. An einem Morgen im März war es gewesen, in einem Gasthaus, in dem er mit einer bezaubernden jungen Japanerin eine bezaubernde Liebesnacht verbracht hatte. Von seinem Bett aus war sein Blick ganz zufällig auf einen Kirschbaum gefallen, den ein vorzeitig warmer Wind dazu verführt hatte, die ersten Blüten zu treiben. Er war anders als die Bäume die er von Amerika her kannte: ein riesiger, knorriger Stamm von mehreren Fuß Durchmesser und scheinbar abgestorben, bis auf einen herrlichen Ast, der, voller Leben, bereit war, sich mit Blüten zu bedecken.
»Warum fällt man solche alten Bäume nicht?« hatte er das Mädchen gefragt. »Fällen?« wiederholte sie ungläubig. »Ich bringe dich hierher. schönste Baum in Japan. sehr berühmt.« Und mit zierlichen Gesten hatte sie ihm erklärt, daß die Japaner einen solchen Baum mehr verehren als andere, da er den Beschauer daran erinnert, daß er alt und der Tod ihm nahe ist, daß aber noch eine Lebensader kraftvoll in ihm pulst. Und als er so dagelegen war, glücklich über das Mädchen, das friedliche Gasthaus und den alten Baum, hatte er sich dem Geist Japans und seiner so eigenartigen Wertung der Dinge sehr nahegefühlt. »In Amerika«, hatte er gesagt, »würde jeder Farmer, der etwas auf sich hält, so einen alten verkrüppelten Veteranen fällen. Aber ich verstehe, was du meinst.« Später war er mit dem gleichen Mädchen auf dem Bonsai-Markt in Tokio gewesen, wo er Zwergbäume gesehen hatte, nur dreißig Zentimeter hoch und zweihundert Jahre alt. Seine Freude an der Schönheit dieser Bäume war so offenkundig gewesen, daß sie ihn zu ihrem Onkel mitgenommen hatte. Und dabei war ihm zum erstenmal aufgegangen, daß sie keine Prostituierte war, sondern ein kluges, feinfühlendes Mädchen, das die höhere Schule besucht hatte und in die Nachwehen eines Weltkrieges verstrickt worden war. Sie hatte ihm ihres Onkels Bonsai gezeigt, der in ganz Japan berühmt war - ein mehr als dreihundert Jahre alter Miniaturkirschbaum, mit einem sogar noch verfalleneren Stamm als dem in der Nähe des Gasthauses. Fast hohl war er gewesen, schwarz und leblos, vielfach durchlöchert dort, wo einst Zweige gewachsen waren; und auch an ihm war ein einziger lebenskräftiger Zweig gediehen, übersät mit Blüten. »Es ist ein Wunder«, hatte der alte Mann gesagt, »der Ursprung und die Blüte.«
Dem zweiten Baum war Cullinane in Makor begegnet -jenem uralten verdorrten Ölbaum, der, ein Skelett fast, trotz seiner vielleicht zweitausend Jahre doch noch, wie der Kirschbaum in Japan, Äste von großer
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