Die Quelle
Schönheit zeigte, die Früchte trugen. Als er dieses Wunder von Ölbaum zum erstenmal gesehen hatte, war ihm der Kirschbaum in Japan nicht in Erinnerung gewesen. Aber eines Tages im August, als er unter seinen Zweigen saß und das Makor zu Zeiten des Kaisers Vespasian heraufbeschwor, hatte er den Baum mit anderen Augen betrachtet, mit seinen Fingern geschnalzt und gerufen: »Genauso sah der Kirschbaum aus, den mir Tomiko in Japan gezeigt hat.« Und so war ihm der Name des Mädchens wieder eingefallen, das Gasthaus und der Bonsai ihres Onkels. Jetzt, im Dunkel des Zelts, saß er auf seinem Feldbett und sah immer noch die beiden alten Bäume vor seinen Augen. Gleichzeitig aber sah er noch etwas, so deutlich wie die graphische Darstellung in einem Buch. Er dachte: Man hat mich glauben gelehrt, das Alte Testament sei tot und alles an ihm Erhaltenswerte in das Neue übertragen worden. Man hat mich auch gelehrt, der Judenglaube sei tot, ausgenommen einige wenige Hartnäckige, die noch an ihm festhalten. Der wahre Glaube aber sei in die Hände der christlichen Kirche übergegangen, und sie habe reiche Blüte getragen.
Cullinane schüttelte den Kopf wie in einem Gefühl des Schwindels. Aber immer noch standen ihm die beiden Bäume vor Augen - Ausdruck der gemäßigten Anschauung über den
Glauben, die sich in ihm entwickelt hatte, ohne daß er sie bewußt hätte in Worte fassen können. Wir haben den großen, urtümlichen Stamm des Judentums, und wir haben das Blühen an dem Zweig des Christentums. Unbewußt habe ich geglaubt, daß der erste tot und alles Leben in den zweiten übergegangen sei. Ich habe niemals darüber nachgedacht, ob die christliche Kirche ihre Wurzeln unmittelbar in den Grund versenkt hat oder nicht. Wenn mir jemand gesagt hätte, daß der blühende Zweig weiter keine Wurzeln habe außer denen, die aus dem uralten Stamm des Judentums ihre Kraft ziehen, wäre mir bewußt geworden, was er meint. Aber jetzt sehe ich es vor mir. Er war beeindruckt, wie sehr seine Vision nachwirkte, und lächelnd dachte er daran, wie die Bäume in seinen Traum gekommen waren. Beim Einschlafen hatte er an Vered Bar-El in Chicago gedacht. Und dann war ihm in einem erotischen Traum Tomiko begegnet, das wohl erregendste Mädchen, das er jemals gekannt hatte (oder kam es ihm nur so vor, weil er damals jünger gewesen war?). Sie war nackt in den Stamm des Kirschbaums geschlüpft, der sich darauf in den Ölbaum verwandelt hatte, unter dem Jesus gesessen haben mochte. So war er auf die Frage nach Gott gekommen. Sie beschleicht einen auf die merkwürdigste Weise, überlegte er, und darüber schwand langsam das Bild der Bäume. Nur ihre Rätselfrage blieb.
Cullinane versuchte nochmals einzuschlafen, konnte es aber nicht. Noch war es dunkel, noch sangen die Vögel nicht. Und so grübelte er über seine Arbeit. Bevor er nach Makor gekommen war, hatte er niemals ernsthaft über die Bedeutung des jüdischen Glaubens nachgedacht. Es war ihm unverständlich erschienen, wie überhaupt jemand diese standhafte Unbeugsamkeit der Juden als wünschenswert empfinden konnte. Auch das Ritual in den Synagogen mit seinem Mangel an Harmonie und Sinnenfreude hatte es ihm nie sonderlich angetan. Es wollte Cullinane scheinen - und er empfand dies ohne Falsch oder blindes Festhalten an seinem eigenen Glauben -, daß die christliche Kirche dem religiösen Erleben außergewöhnliche Schönheit und das Gefühl persönlichen Verbundenseins verliehen hatte, Werte, die weit über das hinausgingen, was ihm im Judentum begegnet war. Es ist, dachte er, als wolle man eine schöne, singende, lebensvolle junge Frau vergleichen mit einer Greisin.
Er schluckte. Bei Gott, das war es! Dieser starre, unnachgiebige Glaube, den er nicht verstehen konnte, verdiente alle seine wenig schmeichelhaften Bezeichnungen. Aber diese Religion war zugleich auch wie eine alte Frau, weise, geduldig, unsterblich und Gott nahe. Er schloß die Augen und sah noch einmal den Ölbaum von Makor vor sich: so überwältigend anzusehen, dem Boden so nahe, und alt, alt, uralt, ausgehöhlt, und dahinter die Leere und ein erschreckendes Gefühl der Zeit. Und doch lebte er.
Noch immer saß er auf seinem Bett. Selbstkritisch fragte er jetzt sich selbst: Nach all meinem Bohren im Herzen dieser Religion - zu welch ehrlichem Schluß bin ich nun wirklich über das Judentum gekommen? Und als belesener Mann konzentrierte er seine Schlußfolgerungen auf drei Bücher: Das Judentum war der knorrige,
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