Die Quelle
Unrecht haben wir getan?« weinte Lea.
Gleichgültig fast, um seinen wahren Gedanken nicht freien Lauf zu lassen, sagte der Rabbi: »Am Sabbat werden sie wieder die Zote aufführen und den Steiß der Sau küssen lassen.«
»Durch dich?« fragte sie mit bebender Stimme. »Ja.«
»Nein!« schrie sie, warf sich zu Boden und umklammerte seine Knie. »Nein, nein!«
Er fuhr ihr übers Haar und lachte. »Ja, dein Mann. Am Sabbat um die Mittagszeit. Und du und alle Juden von Gretsch, ihr werdet zusehen. Mich wird es nicht erniedrigen. Aber die Männer, die es befohlen haben, die ja.«
Die Rebbezin blickte zu ihrem Mann auf. Wie seltsam gefaßt er war. Sie stand auf, setzte sich neben ihn und fragte: »Was aber machen wir ohne Synagoge?«
»Dieses Zimmer hier wird unsere Synagoge«, antwortete er und bat sie, in die Häuser zu gehen und alle Juden aufzufordern, zum Gebet zu ihm zu kommen. Als die Männer sich in dem engen Raum drängten, sagte er ihnen eine der großen Stellen der Thora aus dem Gedächtnis auf, denn die Gemeinde besaß nun keine Thorarolle mehr. »Dies ist die Verheißung unseres Lehrers Mose: >Wenn du aber daselbst den HErrn, deinen Gott, suchen wirst, so wirst du Ihn finden, wenn du Ihn wirst von ganzem Herzen und von ganzer Seele suchen. Wenn du geängstigt sein wirst und dich treffen werden alle diese Dinge in den letzten Tagen, so wirst du dich bekehren zu dem HErrn, deinem Gott, und Seiner Stimme gehorchen. Denn der HErr, dein Gott, ist ein barmherziger Gott. Er wird dich nicht lassen noch verderben, wird auch nicht vergessen des Bundes, den Er deinen Vätern geschworen hat<.«
Am Sabbat, zu der Zeit, an der die Juden sonst in der Synagoge waren, wurden sie, angetan mit ihren hohen roten Hüten und den langen Mänteln mit den gelben Zeichen, durch das eiserne Tor der Jüdengasse hinaufgeführt vor das Portal des Domes. Dort standen sie zweien der bedeutendsten Bildhauerarbeiten Europas gegenüber, dem »Triumph der Kirche über die Synagoge«: Links neben dem Hauptportal die Triumphierende Kirche, eine hoheitsvolle Frauengestalt von feinen Gesichtszügen, die in ihrer rechten Hand ein Banner und in der linken ein Kreuz mit der Dornenkrone trug. Ihr Gesicht verriet die ganze Meisterschaft des Künstlers; der Geist der Kirche, von dem die Augen und das feste Kinn zeugten, war jedoch nicht friedlich, sondern voller Verachtung, er verhieß nicht versöhnende Gnade, sondern Härte und Unversöhnlichkeit.
Die Kälte in den Zügen der Triumphierenden Kirche war verständlich. Denn sie blickte über das große Domportal hinweg auf eine ähnliche Statue, die Besiegte Synagoge. Und diese Frau war nicht schön. Sie senkte das Haupt mit den verbundenen Augen in Trauer und Demütigung. Im rechten Arm hielt sie einen zerbrochenen Stab ohne Siegesfahnen, im linken Arm einen höchst sonderbaren Gegenstand: Moses zweiteilige Gesetzestafel, aber auch sie zerbrochen. Die Gestalt der Synagoge drückte nichts als Verzweiflung aus. Wie jedesmal sah Rabbi Elieser nur die Tafeln an und fragte sich: Wie vermag die christliche Theologie die Behauptung zu begründen, die neue Kirche sei aus der Zerstörung all dessen erstanden, was sie sittlich stark gemacht hat? Glauben sie, das Mosaische Gesetz aufzuheben, indem sie die Tafeln zerschmettern?
Denen freilich, die ihn und die Seinen quälten, stand am heutigen Tag der Sinn weder nach dem Gesetz des HErrn noch nach sonst etwas außer dem herzhaften mittelalterlichen Scherz, der sich in Deutschland viel länger erhalten hatte als andernorts. Nach einer der üblichen Predigten, die den Juden die Barmherzigkeit der Kirche ins Gedächtnis rief, wurden sie zur Nordseite des Domes getrieben. Dort war ein rüdes Bildwerk, weit berühmter noch als Kirche und Synagoge, in die Mauer eingelassen, die »Sau von Gretsch«. Johlend sah die Menge zu, wie die Juden sich vor ihr aufstellten.
Die Sau von Gretsch war ein riesiges steinernes Schwein. Mit böse verschlagenem Gesichtsausdruck lag sie seitlich ausgestreckt und zeigte etwa zwei Dutzend Zitzen, an deren einen Hälfte kleine Teufel mit lustigen Schwänzen und frechen Hörnerchen sogen, während an den übrigen Zitzen schimpflich karikierte Juden hingen. Das Bild sollte dartun, daß vom Tag ihrer Geburt an alle Juden aus der giftigen Sau des Judentums die Verderbnis in sich aufnahmen. Insoweit hätte man die Darstellung als eine zu Stein gewordene grobe Lehrpredigt, wie sie den rauheren Sitten früherer Tage entsprach, auffassen
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