Die Quelle
warten, ehe man sich entschließe, Deutschland zu verlassen. Als die Juden an jenem Abend auseinandergegangen waren, meinte selbst Lea flüsternd: »Wir sollten nicht in die Türkei ziehen, Mann. Unsere Kinder sind glücklich hier. Und wir haben ein gutes Leben.« Aber Elieser wußte, daß sie sich irrte. Wenn auch heute kein Mensch umgebracht, kein Haus eingeäschert worden war - ein Leben, das von so viel Haß bedroht war, wie er ihn heute gesehen hatte, konnte man nicht gut nennen. »Lea«, erwiderte er scharf, »dir steht es zu, den Kindern Märchen von einem Land der Freiheit zu erzählen. Aber deinem Mann erzähle nicht, daß dies verruchte Leben gut sei.« Er zeigte aufs Schlafzimmer, in dem sie standen. »Die Hälfte des Zimmers, in dem der Rabbi schläft - das ist unsere Synagoge.«
»Ich hoffe, daß sich eines Tages die Dinge bessern«, antwortete Lea. »Die Juden Deutschlands hoffen immer«, sagte er barsch und schob mit dem Fuß sein Bett zurecht.
Lea nahm ihn bei den Händen. »Elieser, sag mir die Wahrheit«, bat sie. »Warum willst du gehen?«
Er überlegte eine Weile und antwortete dann: »Weil das Leben hier in der Jüdengasse eine Schande ist.«
»Ich gehe mit dir«, sagte Lea leise.
»Vielleicht müssen wir sehr bald fort«, setzte Elieser dunkel hinzu. »Die Bücher der Juden werden verbrannt. Wenn ich mein Werk nicht bald vollende, werden sie vielleicht ganz untergehen.«
Im Jahre 1543 mußten selbst so optimistische Juden wie Isaak Gottesmann einsehen, was die Zukunft ihnen bringen werde. Denn Martin Luther, ihr einstiger Vorkämpfer gegen die Kirche, wandte sich gegen die Juden mit einem Zorn, den nur ein so kluger Mann wie Rabbi Elieser vorauszusehen vermocht hatte. Nachdem Luther vergeblich versucht hatte, die halsstarrigen Juden zu seiner Lehre zu bekehren, sie aber den Protestantismus ebenso verstockt ablehnten, wie sie es vorher mit dem Katholizismus getan hatten, ließ er alle Hoffnungen auf sie fahren und wütete in Wort und Schrift gegen sie. »Brunnenvergifter, Kindermörder, Seuchenverbreiter, der Schwarzen Magie Ergebene«, das waren einige der milderen Ausdrücke, mit denen er sie bedachte. Jüdische Wucherer, so eiferte er, zapfen den Christen das Lebensblut ab, und jüdische Ärzte vergiften die christlichen Kranken. Die Synagogen müßten zerstört, die Thorarollen verbrannt werden, wo immer sich eine auffinden lasse, die Judenhäuser Ziegel um Ziegel abgerissen und ihre Bewohner hinausgejagt werden ins Weite, auf daß sie dort lebten wie die Zigeuner. Die Zunge solle man ihnen aus dem Halse reißen, so drohte der erste Mann der Protestanten, wenn sie sich dem Beweis nicht beugten, daß Gott Dreieinig sei und nicht Einer. Und er beschwor alle Gottesfürchtigen, die Juden gleich wilden Tieren aus dem Lande zu treiben.
Ein vernichtender Schlag hatte die Juden getroffen. Endgültig war das Tor der Hoffnung geschlossen. Denn die Anschuldigungen sollten jahrhundertelang in den Landen am Rhein nachhallen, bis sie eines Tages wieder laut ertönten und Scheußlichkeiten ohnegleichen einleiteten.
Am Abend dieses Tages sagte Rabbi Elieser den Seinen: »Morgen machen wir uns auf die Reise in die Türkei.«
»Weißt du, wo das Land liegt?« fragte die Rebbezin.
»Wir werden rheinaufwärts wandern«, antwortete er, »dann die Donau abwärts und durch Ungarn hinüber bis zur Hauptstadt des Großtürken.« Und nur seine Frau ahnte, wie viel Angst und Verlorenheit aus diesen Worten sprachen. Elieser konnte Gretsch jedoch nicht verlassen, ohne sich einer letzten Pflicht gegen seine Gemeinde zu entledigen. Er rief die führenden Mitglieder in seinem engen Zimmer zusammen und sagte: »Ich bin der Ansicht, ihr alle solltet Deutschland sofort verlassen. Wer die lange Reise nach Konstantinopel nicht wagt, sollte nach Polen ziehen, weil dort Freiheit herrscht.«
Der Vorschlag stieß auf Widerspruch. Elieser sprach darum weiter: »Ich weiß, wie sehr ihr Deutschland liebt und wie sehr ihr hofft, hier einst Frieden zu finden. Isaak Gottesmann ist bereit, sich der Zurückbleibenden anzunehmen. Möget ihr unter seiner Führung den erhofften Frieden finden.«
»Überlege es dir noch einmal!« bat Gottesmann seinen Neffen. »Der Wahnsinn wird vorübergehen, und dann werden für uns Juden Jahrhunderte der großen Leistungen beginnen in diesem schönen Land. Denn wir sind Deutsche.«
»Ich halte es für meine Aufgabe, die Sache des Judentums zu retten«, entgegnete Rabbi Elieser. Am nächsten
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