Die Quelle
unbiegsame Stamm eines uralten Glaubens, gegründet auf die Thora, zu der das Denken und Handeln nach dem Talmud kam, ebenso unnachgiebig, aber sehr geeignet, den Menschen sehr wesentliche Belehrung zu vermitteln, und der Sohar. Diese Trias von Büchern, Thora, Talmund und Sohar, hatte eine ganz in sich geschlossene Religion von ungeheurer Lebenszähigkeit hervorgebracht, eine Religion mit einer ihr geradezu angeborenen Bestimmung zu überleben, denn wann immer im Laufe der Geschichte ihre zeitgebundene Form dem Untergang nahe schien, hatte eine neue und doch urwüchsige Kraft ihr einen weiteren Schub vorwärts versetzt. Selbst die Daten dieses jeweiligen Neubelebens sind bedeutsam, dachte Cullinane. Um das Jahr 1100 v. Chr. war die Wesensart des alttestamentarischen Judentums bereits im großen und ganzen ausgeprägt. Etwa dreizehn Jahrhunderte lang hat es dann in überraschendem Maße unverändert bestanden, bis in der Zeit nach der endgültigen Vernichtung des jüdischen Staates, um 200 n. Chr. der Talmud Gestalt anzunehmen begann. Der Zeitabschnitt der Vorherrschaft des Talmund umfaßte weitere dreizehn Jahrhunderte, bis um 1500 n. Chr. als die Kabbala von Spanien nach den Bergen von Safed gebracht wurde. Von dort verbreitete sich ihre mystische Ausstrahlung über die ganze jüdische Welt - kräftig genug, den Geist des Judentums weitere dreizehn Jahrhunderte lang lebendig zu erhalten. Das wäre, überlegte Cullinane, bis etwa 2800 n. Chr. Was sich die Juden dann einfallen lassen werden, geht mich nichts an. Nochmals legte er sich nieder, um zu schlafen. Wieder gelang es ihm nicht. Er grübelte: Wenn ich mit einfachen Worten jemandem, der nichts darüber weiß, den Glauben der Juden erklären sollte, was würde ich sagen? Und fast gegen seinen Willen war das Symbol des Ölbaums wieder da. Und er fand die Worte: Eine machtvolle Religion, uralt, knorrig und unbeugsam, die den Menschen zu seiner eigentlichen Wesensart und seinem eigentlichen Erfahren zurückführt. Er lächelte. In zweitausendsechshundert Jahren war dieses Judentum lediglich zweimal einem Wandel unterworfen gewesen, durch den Talmud und durch die Kabbala, wohingegen das Christentum mit meisterhafter Geschmeidigkeit etwa ein Dutzend verblüffender Umbildungen durchgemacht hatte, wann immer es vom Geist der Zeit gefordert wurde: Da war die Lehre von der Dreieinigkeit, von der Transsubstantiation, von der Unfehlbarkeit des Papstes. da war der Marienkult. Darin bestand der Unterschied zwischen den beiden Religionen; darin lag die Erklärung, warum das Christentum die Welt bezwungen hatte, während das Judentum die starre, in ihrer Urform verharrende Religion einiger weniger geblieben war.
»Hallo, Eliav«, rief er. »Schlafen Sie noch?« Er erhielt keine Antwort. Eliav schlief fest und wollte es zweifellos gern weiter tun. Trotzdem ging Cullinane zu Eliavs Bett hinüber und schüttelte ihn. »Schlafen Sie?«
»Jetzt nicht mehr«, antwortete der Jude.
»Ich kann nicht schlafen. Ich habe ein paar Gedanken hin-und hergewälzt und würde sie gern mit Ihnen besprechen.«
»Los damit.« Eliav setzte sich auf und zog seine Knie an die Brust, während sich der Ire am Fuß seines Bettes niederließ. Nur das Mondlicht erhellte das Zelt; die beiden sprachen mit gedämpfter Stimme, um Tabari nicht zu stören. »Ich war im Zweifel.«, er zögerte, fast verlegen, »über einiges, in der Religion.«
»Warum nicht? Wir haben uns schon lange genug damit befaßt.«
»Und ich möchte wissen was ein gläubiger Jude.«
»Sie brauchen mich nicht dabei anzusehen. Ich bin kein orthodoxer Rabbi, der seine Zeit in der Synagoge verbringt.«
»Und ich kein Priester, der seine Zeit mit Messelesen verbringt.«
»Sie meinen, daß wir beide in diesen Dingen Analphabeten sind?«
»Genau. Nur daß Leute wie wir es sind, die die Dinge im Fluß halten.«
»Einverstanden.«
»Also lassen Sie mich noch einmal fragen. Was denkt ein nichtorthodoxer Durchschnittsjude wie Sie über die Parallelentwicklung des Judentums und des Christentums?«
Eliav ließ seine Knie los, lehnte sich auf sein Kopfkissen zurück und dachte eine ganze Weile nach. Dann beugte er sich vor und sagte: »Ich habe immer gefunden, daß das klassische Judentum etwa um das Jahr 100 n. Chr. reif war für eine Neuerung. Die alten Formen mußten erweitert werden. Um das zu beweisen, brauchen Sie sich nur die Begriffe in den Schriftrollen vom Toten Meer anzusehen. Oder die Entwicklung des Talmud. Darum habe ich den
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