Die Quelle
Aufbruch des Christentums niemals übelgenommen. Die Welt war dazu bereit.«
»Warum?«
»Möglicherweise, weil das Judentum eine starre, zähe, alte Religion war, die dem einzelnen nicht genug Spielraum ließ. Es hätte niemals die ganze Welt für sich gewinnen können. Die strahlende, schwärmerische Religion des Christentums war auf ideale Weise für diese Bekehrungsbedürfnisse geschaffen.«
»Macht das Strahlende den Unterschied zwischen den beiden aus?« bohrte Cullinane.
»Teilweise. Denn, sehen Sie, als sich das Judentum durch den Talmud tatsächlich erneuerte, fiel es in sein ureigenstes Wesen zurück. Es wurde noch starrer und noch weniger aufgeschlossen für den Wandel der Zeit, während sich die christliche Kirche psychologisch einfühlsam voranbewegte. In einer Zeit starken Wechsels hat ein Organismus, der sich auf sich selbst zurückzieht, weniger Chancen als einer, der sich ausdehnt.«
»Es scheint mir, es war für das Judentum ein Unglück, daß ihr in den Jahren der Entscheidung jene ganz nach innen gerichteten Rabbinen hattet und wir Christen die weitblickenden Kirchenväter.«
»Genau da liegt das Problem«, sagte Eliav bedächtig. »Sie sagen, Sie hätten Glück gehabt, daß sich in den kritischen Jahren zwischen 100 und 800 n. Chr. das Christentum vorwärtsbewegte, und wir hätten das Pech gehabt, daß während der gleichen Jahre das Judentum rückwärts ging. Aber sehen Sie nicht, daß die eigentliche Frage lauten sollte: vorwärts wohin. rückwärts wohin?« Cullinane dachte einen Augenblick nach und sagte: »Großer Gott, jetzt sehe ich es. Das ist es, was mich so gequält hat, ohne es zu wissen, weil ich nicht einmal die Frage richtig formuliert hatte.«
»Mein Gedanke ist, daß in jenen kritischen Jahren das Judentum wieder zu seinen religiösen Grundlehren zurückkehrte, nach denen die Menschen in einer Gemeinschaft miteinander leben können, während das Christentum voranstürmte und sich zu einer herrlichen persönlichen Religion entwickelte, die niemals, selbst in zehntausend Jahren nicht, die Menschen lehren wird, miteinander zu leben. Ihr Christen werdet Schönheit haben, einen leidenschaftlich innigen Umgang mit Gott, herrliche Kirchen, einen strahlenden Kult und die geistige Verzückung. Aber ihr werdet niemals das enge Gefüge einer geordneten Gesellschaft haben, das Familienleben, die kleine Gemeinschaft, wie sie im Judentum möglich sind. Cullinane, erlauben Sie mir diese Frage: Wäre eine Gruppe von Rabbinen, in ihren Entscheidungen auf die Thora und den Talmud gestützt, je auf eine Erfindung wie die Inquisition gekommen - auf eine ihrem ganzen Wesen nach gesellschaftsfeindliche Institution?«
Jetzt war es Cullinane, der sich hin und her wand. Nach einer Weile gestand er: »Ich muß zugeben, daß wir euch damals ziemlich schlecht behandelt haben.« Eliav stöhnte: »Warum gebraucht ihr Christen immer diesen großartig beschönigenden Ausdruck >ziemlich schlecht behandelt John, eure Inquisition hat mehr als dreißigtausend der besten Juden verbrannt. Ich habe neulich gelesen, daß ein prominenter Deutscher zugegeben hat, sein Land habe >die Juden ziemlich schlecht behandelte Er war auf diese so harmlos klingenden Worte verfallen, um die Ausrottung eines ganzen Volkes zu verschleiern. Das Judentum würde es seinen Rabbinen einfach nicht gestatten, sich derartige Lösungen einfallen zu lassen. Es scheint mir, das Judentum ist nur zu verstehen, wenn man es als eine fundamentale Philosophie betrachtet, die gerichtet ist auf das größte aller Probleme: Wie können die Menschen in einer geordneten Gesellschaft zusammenleben?«
»Ich möchte eher annehmen«, meinte Cullinane, »daß das wirkliche religiöse Problem stets dies ist: Wie kann der Mensch erreichen, Gott zu erkennen?«
»Es gibt da einen Unterschied zwischen uns«, erwiderte Eliav. »Den Unterschied zwischen dem Alten und dem Neuen Testament. Der Christ entdeckt den Geist Gottes, und die Wirklichkeit ist so verwirrend, daß ihr sofort eine Kathedrale baut und eine Million Menschen umbringt. Der Jude meidet diesen vertraulichen Umgang mit Gott und lebt jahraus, jahrein in seinem Ghetto, in einer schmierigen, kleinen Synagoge und arbeitet an den Grundsätzen, nach denen die Menschen miteinander leben können.«
»Was die Beschönigung >ziemlich schlecht behandelt< angeht. was fühlt ein Jude wie Sie dabei. heute?«
Eliav lockerte wieder den Griff um seine Knie und ließ sich in die Dunkelheit zurückfallen.
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