Die Quelle
besänftigt hatten, händigte er ihnen einen Brief aus mit der Aufforderung, ihn in den Synagogen zirkulieren zu lassen. Es war ein geradezu diplomatisches Dokument, frei von Schärfe, dagegen reich an juristischen Zitaten. Abulafia hatte Fälle aus sechs verschiedenen Ländern ausgegraben, die sein Urteil in dem Fall der geschiedenen Jüdin aus Damaskus stützten. Er stellte diese Präzedenzfälle so zusammen, daß jeder einzelne Verfahrenspunkt, den Rabbi Elieser beanstandet hatte, durch sie offensichtlich bewiesen war. Er zeigte, daß das Scheidungsrecht, wie es gegenwärtig in den Judengemeinden von Spanien, Portugal, Deutschland, Frankreich, Ägypten und der Türkei gehandhabt wurde, seinem Urteil eindeutig entsprach, so daß der Vorwurf von Willkür und Ignoranz nicht aufrechterhalten werden konnte.
Doch noch während er diesen Teil seines Briefes zusammenstellte, gestand er sich selbst, daß jeder Gelehrte, der die von ihm genannten Präzedenzfälle untersuchte, bemerken würde, daß von Spanien bis in die Türkei eine Reihe ausgezeichneter Rabbinen sich langsam, Schritt für Schritt und vielleicht unbewußt, von der genauen Auslegung der Thora und des Talmud entfernt hatten. Von freier denkenden Geistern wie Maimonides ermutigt, hatte eine Gruppe von Rabbinen begonnen, ihre eigene Tradition zu entwickeln. Abulafia wußte, daß Rabbi Elieser in seinem Brief diese revisionistische Tradition und nicht eigentlich ihn, Doctor Abulafia, hatte treffen wollen. Auf diesen Gesichtspunkt des Streits aber ging der Spanier nicht ein, sondern richtete den klaren Blick auf eine weitere, auf die grundlegende Differenz zwischen ihnen und widmete ihr die letzten Seiten seines Briefes.
»Ich meine, daß die Erörterung des gelehrten Rabbi Elieser bar Zadok ha-Aschkenas sich nicht gegen mich persönlich richtet. Vielmehr glaube ich, daß er Safed und den Juden der ganzen Welt einen Gefallen erwiesen hat, indem er bestimmte theoretische Fragen aufwarf. Auch trifft das juristische Problem übertriebener Anhängerschaft an Maimonides oder unzureichender Befolgung des Talmud nicht mich. Ich glaube, daß Rabbi Elieser, indem er diese Widersprüche aufdeckte, uns ebenfalls einen Dienst geleistet hat. Das eigentliche Problem, das uns beschäftigt, und mit dem ich mich auch fernerhin beschäftigen möchte, ist wohl dieses: Ist das Fortbestehen des Judentums möglich, wenn wir der engen Gesetzesauslegung verhaftet bleiben, wie sie eine Anzahl älterer Rabbinen versteht und ausübt! Müssen wir nicht die Alltagserfahrungen des gewöhnlichen Mannes im Gesetz berücksichtigen und in künftigen Jahren unseren Glauben dadurch kräftigen? Wie ich in den obigen Zitaten dartue, befolge ich das Gesetz auf das genaueste; ich würde es selbst als Schande betrachten, wiche ich auch nur um ein Tüpfelchen vom Gesetz ab, wie es sich, durch große Rabbinen und lebendige Menschen niedergelegt, uns heute darbietet. Ich fälle kein Urteil, ehe ich nicht weiß, wie in Paris, Frankfurt und Alexandria entschieden wird, denn ich bin ein Diener des lebendigen, der Entwicklung unterworfenen Gesetzes. Hingegen denke ich, daß der jüdische Glaube, wenn er fortbestehen soll, nicht zum Gehege einiger weniger Männer werden dürfte, die durch allein an der Gesetzesformel klebende Anwendung die schlichte Lebensfreude und ihre mystische Erhöhung zertreten.«
Mit diesem höflichen Schreiben hatte Abulafia die Kampfansage angenommen. Zu einem persönlichen Streit zwischen Elieser und Abulafia kam es allerdings nie; dafür sorgten die anderen Rabbinen und der gesunde Menschenverstand der beiden Gegner. Wohl aber wuchs sich der Briefwechsel zu einer grundlegenden Auseinandersetzung zwischen den beiden Strömungen des Judentums jener Zeit aus: aschkenasische Gesetzesstrenge gegen sefardische Mystik oder, mit anderen Worten: Konservatismus der Rabbinen gegen neue gesellschaftliche Vorstellungen der Gemeinden oder die einschränkende Tendenz des Talmud gegen die explosive Befreiung durch den Sohar. Auf diesen Ebenen fand der Kampf statt. Die Männer aus dem Kreise des Doctor Abulafia - sie waren die mit der meisten Überzeugungskraft -besaßen eine deutliche Vorstellung von dem, was dem Judentum der Welt zustoßen könne, sofern die Rabbinen allein maßgeblich blieben. »Es würde zu einem Glauben«, prophezeite einer von ihnen, »der mich an das Gelbe im Ei erinnert. In der Mitte steckt es, rein und sauber, vor der Allgemeinverständlichkeit bewahrt durch das Eiweiß,
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