Die Quelle
dann hatte er sie zu opfern.
Das letzte türkische Geld, das er noch besaß, steckte er in seine rechte Hosentasche. Die Päckchen englische Banknoten tat er in seine Jacke. Und in seine linke Hosentasche kam die Goldmünze - welch beruhigendes Gefühl, ihr Gewicht an seinem Bein zu spüren! Dann setzte er den Fes auf, bürstete noch einmal seinen Anzug aus und betete: »Gott meiner Väter, führe mich heraus aus dieser Wildnis.« Schemuel Hakohen war als Schmul Kagan in dem kleinen Dorf Wodsch im Zarenreich zur Welt gekommen, im Westen Weißrußlands, als Sohn eines dürren, frommen Mannes, der Pachtgelder für russische Großgrundbesitzer eintrieb. Diesem seinem Vater hatte sich Schmul zum erstenmal widersetzt, als er neun Jahre alt war. Sein strenggläubiger Vater hatte ihn gezwungen, die lang herabhängenden Locken hinter den Ohren zu tragen, die, von der Bibel vorgeschrieben, als Zeichen chassidischer Frömmigkeit galten. Der kleine Schmul jedoch, ein kränkliches, verwachsenes Kind, das beim Gehen die linke Schulter vorstreckte, war längst dahintergekommen, daß Knaben mit Peijes, wie diese Schläfenlocken hießen, von den Russen besonders oft übel mitgespielt wurde. Darum nahm er die Schere seiner Mutter und schnitt die Locken ab. Seine Mutter äußerte sich nicht dazu. Als aber der alte Kagan vom
Einsammeln der Pachten heimkam, brach sie in Tränen aus, und Schmuls Vater führte den Sohn in einen verdunkelten Raum, wo er ihm die schreckliche Mahnung des Mose, unseres Lehrers, ins Gedächtnis rief: »Wenn jemand einen
eigenwilligen und ungehorsamen Sohn hat, der seines Vaters und seiner Mutter Stimme nicht gehorcht, und wenn sie ihn züchtigen, ihnen nicht gehorchen will, so soll ihn Vater und Mutter greifen und zu den Ältesten der Stadt führen und zu dem Tor des Orts, und zu den Ältesten der Stadt sagen: >Dieser unser Sohn ist eigenwillig und ungehorsam und gehorcht unserer Stimme nicht und ist ein Schlemmer und Trunkenbolds So sollen ihn steinigen alle Leute der Stadt, daß er sterbe.« Und nach einer Pause hatte der Vater hinzugesetzt: »Du wirst deine Locken wieder wachsen lassen.«
Seines Vaters Warnung hatte auf Schmul großen Eindruck gemacht. Wochenlang peinigte ihn die Vorstellung dieser in der Thora vorgeschriebenen Strafe Trotzdem konnte auch dies ihn nicht den Wünschen seines Vaters gefügig machen. Er weigerte sich, die Locken zu tragen.
Der Zwist wurde noch ärger dadurch, daß seine Eltern ihn gern auf die Jeschiwa schicken wollten, ins rabbinische Lehrhaus, damit er sich auf ein lebenslanges Studium der Thora und des Talmuds vorbereite, denn Schmul war sehr begabt. Abermals weigerte sich Schmul, denn er hatte sich bereits entschlossen, in ein Geschäft einzutreten.
»Kein Geschäft ist so würdig wie das Talmudstudium«, sagte Kagan. »Für mich ist das nichts.«
»Schmul, hör mich an. Jeden Morgen, wenn ich an der Synagoge vorbeikomme, bitte ich den Allmächtigen, mir zu verzeihen, daß ich Pachten einziehe. Für Nichtjuden. Und daß ich nicht den Talmud so lese, wie ich sollte.«
»Ich möchte aber arbeiten.«
Der alte Kagan, der die Not der Juden in Rußland, wo man immer Pogrome befürchten mußte, zur Genüge kannte, meinte mit Überzeugung: »Mein Sohn, du bist ein schwächlicher Knabe mit einem verkrüppelten Rücken. Für einen Juden wie dich gibt es nur einen sicheren Weg. Studiere den Talmud. Werde ein frommer Mann. Und vertraue in den HErrn.«
Doch diesen Gedankengängen wollte der eigensinnige Schmul nicht folgen. Da es zu keiner Einigung kam, beschlossen Vater und Sohn, ihre Meinungsverschiedenheiten dem heiligen Mann von Wodsch vorzutragen und sich seinem Urteil zu fügen. Also gingen sie die schmutzige Dorfstraße entlang, bis sie zum Brunnen kamen. Ihm gegenüber lag ein weitläufiges Holzhaus. Chassidische Juden im langen schwarzen Kaftan, mit Pelzkappen und Schläfenlocken, standen in Gruppen an der Tür, durch die Kagan seinen Sohn führte. Ohne anzuklopfen trat Kagan ein und sagte: »Rebbe, wir kommen, um Euer Urteil einzuholen.« Der Mann, vor dem sie standen, wirkte kaum wie das fromme Oberhaupt einer frommen Gemeinde. Er war groß und kräftig, etwa vierzig Jahre alt, gesund das Gesicht, lächelnd die Augen, buschig der schwarze Bart - ein Rabbi, der das Tanzen und das Jauchzen der Volkslieder liebte. Ein kräftiger, ein fröhlicher Mann: Bei Hochzeiten war es vorgekommen, daß er die Braut auf seine mächtigen Schultern gesetzt hatte und
Weitere Kostenlose Bücher