Die Quelle
übermütig durch den Hof getollt war, mit lauter Stimme Hochzeitslieder singend, bis seine Gemeinde lustig mitmachte. Und wenn dann um Mitternacht der eine oder andere sagte, nun solle man aber Schluß machen mit der Feier, ließ er die Musikanten weiterspielen. Einmal wollte man ihm Vorwürfe machen, weil er bei einer Hochzeit bis in die frühen Morgenstunden feierte. Da antwortete er: »Wir Juden von Wodsch, wir haben weder Kutschen noch Gold noch teuren Wein. Wenn wir nicht einmal mit Tanzen und Singen und Spielen großzügig sein dürfen, wie sollen wir dann feiern?« Und als der Nörgler noch weiter herummäkeln wollte, packte der hochgewachsene Rebbe zu, schüttelte ihn und sagte barsch: »Jakob! Die Braut hat kein Geschirr, den Tisch zu decken. Ihr Leben lang wird sie in Armut leben, getröstet nur von der Erinnerung an diese Nacht, in der sie schön war. Um Himmels willen, tanz jetzt mit ihr, bevor die Hähne krähen und wir aufhören müssen.«
Er hieß allgemein nur der Wodscher Rebbe, ein chassidischer Rabbi, der das Elend seiner Juden durch die Freude an der Berufung im Glauben zu lindern suchte. Schon sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßvater hatten im gleichen Haus ihre Gemeinde geleitet und Hof gehalten wie noble Herren. In diesem Haus fanden durchreisende Juden einen Schlafplatz, und die ortsansässigen trafen sich hier zum Gespräch. Es war ein geheiligter Ort, bestimmt dazu, den Juden die Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die sie in den Gerichten des Zaren vergeblich suchten. In allen Dörfern Westrußlands und Ostpolens wurde der Wodscher Rebbe als Zaddik anerkannt, als einer der heilig-frommen »Gerechten«. Samstags hatte er oft nahezu fünfzig Juden aus verschiedenen Gemeinden an seinem Tisch, die gekommen waren, Weisheit von seinen Lippen zu vernehmen. Was sie aber meistens hörten, waren alte jüdische Volkslieder, die er mit lebensfroher Stimme erschallen ließ.
Quer über die linke Wange zog sich eine Narbe hin, die so gar nicht zum Bild eines heiligen Mannes passen wollte. Und doch war gerade diese Narbe ein Zeichen der Ehre, von der die Chassidim noch nach Generationen erzählten: »An einem Freitagnachmittag kam der Holzfäller Pinchoss zum Wodscher Rebbe und sagte: >Der arme Mendel, er hat nichts, womit er Sabbat feiern kann.< In jenem Winter besaß unser Rebbe kein Geld, da er alles fortgegeben hatte. Aber der Gedanke an einen frommen Juden, der nicht in der Lage war, die Prinzessin
Schabbat gebührend empfangen zu können, war ihm unerträglich. Darum setzte er seine Pelzkappe auf, ging zum Schloß des adligen Grundherrn und sagte: >Hoher Herr, Eure armen Juden in Wodsch haben kein Geld, den Sabbat zu feiern. Was könnt Ihr mir geben?< Der Adlige war verärgert über diese Störung und schlug dem Rebbe mit dem Degen quer über das Gesicht. Ohne mit der Wimper zu zucken, sagte der Rebbe: >Dieser Schlag war für mich. Und was habt Ihr den armen Juden zu geben?< Durch seinen Mut erhielt er die Kopeken, die Mendel für den Sabbat brauchte.«
Als jetzt Vater und Sohn Kagan vor dem Rebbe von Wodsch standen, lächelte der fromme Mann den Knaben an, der sich die Schläfenlocken abgeschnitten hatte, und fragte: »Schmul Kagan, was hast du angestellt?«
»Mein Sohn weigert sich, Peijes zu tragen«, klagte der Vater. »Er will auch nicht auf die Jeschiwa.«
»Nein?« fragte der Rebbe. »Ich will arbeiten«, erwiderte Schmul.
Der große Rebbe lachte schallend. »Wie viele Väter in Wodsch wären glücklich, wenn ihre faulen Söhne nur einmal sagten: >Ich will arbeiten.«« Er streckte seine Hand aus, packte Schmul und sagte: »Setz dich auf meinen Schoß, mein Sohn«, und während er mit einer seiner riesigen Hände den zarten Knaben an sich drückte, fuhr er ihm mit der anderen über sein kurzes Haar. »Ich habe schon gesehen, daß du wie ein frischgeschorenes Lamm durchs Dorf läufst.« Bei diesem Scherz lachten die Chassidim, die im Raum saßen, wie Höflinge lachen, wenn ihr Fürst sich einen Spaß macht, aber der Rebbe beachtete sie nicht, sondern sagte zu dem Jungen: »Dein Vater hat recht, Schmul. Israel kann nicht bestehen, wenn nicht jedes Jahr neue Gelehrte nachwachsen. Mein eigener Sohn ist auf der Jeschiwa, und ich bin stolz auf ihn. Dein Vater wäre auch stolz, wenn du den Talmud studiertest.«
Er umarmte den Jungen und fragte: »Wo fehlt’s? Ist dir nicht nach Studieren zumute?«
»Ich will arbeiten«, wiederholte Schmul.
»Und das sollst du auch«, rief der
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