Die Quelle
Rebbe vergnügt. »Kagan, Israel braucht nicht nur Gelehrte, sondern auch Männer praktischen Lebens. Schneid dir die Peijes ab, Schmul. Geh auf die russischen Schulen. Geh nach Deutschland, auf eine Universität. Tu all die großartigen Dinge, deren Juden fähig sind. Aber vergiß niemals deinen Gott.« Er erhob sich, hielt den Jungen in seinen Armen und begann auf der Stelle auf und ab zu tanzen. Sein Bart kitzelte Schmuls Gesicht. Die Chassidim klatschten den Takt zum Tanz, und einer der würdigen Männer nach dem andern, alle mit langen Bärten und Schläfenlocken, nahm am Tanz teil. Laut hallte ihr Lobgeschrei im Amtszimmer des Rebbe wider.
»Wir tanzen für Schmul Kagan«, rief der Rebbe, »denn er ist ein Kind des Heiligen, gelobt sei Er!, und wird große Dinge in der Welt vollbringen.« Als der Tanz sich seinem Ende zuneigte
- noch immer sangen alle und schlugen in die Hände -, küßte der Rebbe den kleinen Schmul auf die Wange und flüsterte: »Du bist ein Kind des Heiligen, gelobt sei Er!, bist der Sohn Abrahams.«
Der Tanz war vorbei. Würdevoll brachte der große Mann den Knaben Schmul seinem Vater zurück und sagte zu diesem: »Die Wege, die zum HErrn führen, sind vielerlei Art.« Und dann, als komme der Allmächtige über ihn, drückte der Rebbe den Jungen fest an sich und brach in Tränen aus. Schluchzend wehklagte er: »Du wirst all diese Dinge tun, mein Kind, aber sie werden dir kein Glück bringen; dir auch nicht«, und er deutete auf einen der bei ihm zu Besuch weilenden Chassidim, »oder dir und dir.« Langsam ging er zu seinem Stuhl, wo er, zitternd wie ein Kind, sitzenblieb, denn er hatte soeben eine Vision der Tragödie erlebt, die seinen Juden bevorstand.
Mit Erlaubnis seines Vaters wurde Schmul Kagan der Besuch der Jeschiwa erlassen; er ging statt dessen auf die russische Schule. Er war ein guter Schüler; aber eine so kleine Gemeinde wie die von Wodsch konnte nicht die Mittel aufbringen, ihm das Studium an einer Universität zu ermöglichen. Als er zwanzig Jahre alt war, nahm er deshalb eine Stellung als Holzaufkäufer für die Regierung an. In seinem Beruf reiste er weit in Westrußland herum, ein kleiner Jude mit einem merkwürdigen Gang, der von Stadt zu Stadt zog. Aber auf diesen Reisen wurde Schmul mit all dem Neuen bekannt, das sich in dem riesigen Land zu regen begann. In Kiew hörte er von jungen Männern: »Die einzige Hoffnung für uns Juden ist der Sozialismus. Ihm müssen wir uns anschließen und ein neues Rußland aufbauen, in dem auch wir in Ehren eine Heimat finden.« In Berditschew lernte er eine Gruppe kennen, die in dem Hause eines Dichters zusammenkam. Der aber behauptete: »Die Juden werden nur dann ihr Recht bekommen, wenn sie nach Zion zurückkehren und sich dort einen neuen Staat schaffen.« Aber nach jeder Reise kam Schmul nach Wodsch zurück. Dann saß er wie ein Büßer im Amtszimmer des Rebbe und hörte zu, wie der heilige Mann seine Ansicht darlegte: daß das wahre Heil der Juden nur in aufrichtiger Gläubigkeit und im Talmud zu finden sei. Und zu seiner eigenen Überraschung stellte der junge Kagan fest, daß er eher dem Rebbe als den wortgewandten Leuten in Kiew und Berditschew beipflichtete, und jedesmal war es ihm eine besondere Freude, wenn der Zaddik am Ende seiner Worte ein chassidisches Lied sang. Schmul stimmte mit ein, und der Raum, in dem der Rebbe seinen Juden Recht sprach und Trost spendete, hallte von fröhlich lärmenden Stimmen wider: Dies hier war unwandelbar, die Freude der armen Juden an der Lobpreisung ihres Gottes. Im Haus des Rebbe gab es aber auch andere Meinungen. Obwohl er selbst sich ausschließlich auf den Talmud stützte, ließ er auch die Männer gelten, die glaubten, neue Möglichkeiten für die Zukunft der Juden gefunden zu haben. Eines Tages - es war im Jahre 1874 und Schmul damals achtundzwanzig Jahre alt - überraschte der Rebbe den jungen Holzhändler mit folgenden Worten: »Was dir der Dichter in Berditschew gesagt hat, ist richtig. Der Tag wird kommen, an dem wir Juden aus Rußland und Polen uns mit den Juden in Erez Israel vereinen müssen, um uns ein neues Land aufzubauen. Wir werden den Boden bestellen und in Städten arbeiten wie andere Menschen, und wenn ich jünger wäre, würde auch ich dieses neue Leben wählen.«
Noch im gleichen Jahr hatte Schmul abermals Gelegenheit, sich zu wundern. Ein bärtiger, salbungsvoll redender Jude mittleren Alters namens Lipschitz erschien im Hause seines Vaters. Jeden einzelnen
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