Die Quelle
begrüßte er, unentwegt lächelnd, mit einem Händedruck, so kraftlos wie der einer Frau. Er wanderte, so erfuhr Schmul, durch ganz Rußland, von Dorf zu Dorf; aus einer langen Liste, die er bei sich hatte, entnahm er die Namen der Juden, bei denen er auf ein Nachtquartier rechnen konnte. In Wodsch stürzte er sich sogleich auf die Familie Kagan. »Ich bin aus Tiberias«, verkündete er. »Aus Tiberias, in Erez Israel, und ich werde einige Tage bei euch wohnen.« Er fühlte sich sofort wie zu Hause, aß mit riesigem Appetit und suchte im Dorf alle jüdischen Familien auf, um Spenden zur Unterstützung talmudischer Gelehrter in Tiberias zu erbitten.
Schmul konnte diesen Lipschitz nicht leiden, weil er vermutete, daß dieser einen großen Teil des gesammelten Geldes für sich selbst behielt. Daß Lipschitz jedoch Erez Israel so kurze Zeit nach den prophetischen Worten des Rebbe erwähnte, weckte Schmuls Phantasie. Und so stellte er dem Gast während des Essens eine Reihe von Fragen. Mit vollen Backen kauend, erklärte Lipschitz, wie hübsch die Stadt am
Ufer des Sees Genezareth liege, wie stark das Übergewicht der Araber in der Stadt sei, auf welche Weise die Türken regierten und wie die Juden dort lebten.
»Was arbeiten denn die Juden?« fragte Schmul. Erstaunt erwiderte Lipschitz: »Sie studieren.«
»Alle?«
»Ja.« Und er erzählte die alte jüdische Sage, nach der an dem Tage, an dem die heiligen Männer in Safed und Tiberias aufhören, den Talmud zu studieren, das Judentum untergehen müsse. »Ihr in Wodsch gebt euer Geld, damit in Tiberias das Kommen des Messias gesichert werden kann«, erklärte er. Schmul allerdings meinte, daß vieles von dem, was Lipschitz sagte, Unsinn sei.
Während der folgenden Monate verbrachte der junge Holzhändler viele Abende der Zwiesprache mit seinem Rebbe, der sich leichtfüßig und sicher wie ein Reh seinen Weg durch das Gewirr der Probleme suchte, die Schmul bewegten. »Jederlei Beteiligung an einer Revolution kann ich nicht billigen, denn wenn wirklich ein neues Rußland entsteht, werden wir beide immer noch Juden bleiben, und unsere Lage wird sich nicht bessern. Nach Erez Israel auswandern, das könnte für dich, der du energisch bist, schon richtig sein. Für die meisten hier wäre es jedoch der falsche Weg. Unser Heil ist es immer noch, unermüdlich festzuhalten am alten jüdischen Brauch.« Während seiner Gespräche mit dem großen Mann begriff Schmul zum erstenmal wirklich, was jüdische Rechtschaffenheit bedeutet. Es gibt einen rechten Weg für jegliche Handlung, und es gibt einen falschen, und ein ehrlicher Mann hält sich an den rechten Weg. Das trifft auch für alles Geschäftliche zu, denn auch dort gelten altüberlieferte moralische Werte; wenn man sie nicht beachtet, bedeutet es Unglück und Bedrängnis. Und das Miteinander der Menschen wird von Gesetzen beherrscht, die sich, auf lange Sicht gesehen, noch immer als gerecht erwiesen haben.
Dann und wann überkamen den Rebbe mystische Vorahnungen der Zukunft. So sagte er Ende 1874 warnend zu Schmul: »Die Zeit wird kommen, da wir Juden in Polen und Rußland noch einmal die Tage eines Chmelnizkij erleben und fürchterlich heimgesucht werden. Ich bin zu alt, als daß ich flüchten könnte. Ich werde hierbleiben und den Meinen helfen, ihr Leben zu retten, was immer auch kommen mag. Aber andere sollten an die Zukunft denken und danach handeln.« An einem warmen Frühlingsabend im Jahre 1875 sollte Schmul erfahren, was sein Rebbe gemeint hatte. Es begann damit, daß in einem Nachbardorf zufällig ein paar russische Bauern nach des Tages Mühen in einem Gasthaus beisammensaßen und sich munter betranken. Die Sonne wollte gerade untergehen, als einer der Bauern ohne jeden Anlaß, wie das bei Bezechten vorkommt, trübselig wurde und, noch ohne böse Absicht, sagte: »Jede Kopeke, die ich kriege, fällt irgendeinem Juden in die Hände.«
»Recht hast du«, rief ein anderer. »Entweder geben wir unser Geld dem Kagan für die Pacht oder dem Lieb für den Wodka.«
Alle Bauern drehten sich gleichzeitig um und stierten den jüdischen Wirt an. Lieb wußte, was dieser Blick bedeutete, und begann sofort, die Gläser wegzuräumen. Seinem Sohn gab er ein Zeichen.
»Lieb«, brüllte der erste Bauer, »was machst du eigentlich mit unserem Geld?«
»Ich arbeite hier nur für den Besitzer«, sagte Lieb entschuldigend, indem er das Geld seines Herrn in Sicherheit brachte.
»Und Kagan?« fragte der zweite Bauer. »Was tut der
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