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Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A Michener
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mit unserm Geld?«
    »Er macht es wie ich. Er gibt es dem gnädigen Herrn Gutsbesitzer.« Die Bauern nickten. Eigentlich hatte der Lieb recht. Und deshalb brummte der zweite Bauer: »Ihr Juden seid genauso schlecht dran wie wir.« Erleichtert atmete Lieb auf.
    Aber da sagte der erste Bauer so nebenbei, als erinnere er sich gerade eines traurigen Ereignisses in seinem Leben: »Jerusalem ist verloren.«
    Diese Bemerkung, die ebenso trübselig klang wie das erste, was der Bauer gesagt hatte, ließ plötzlich einen Funken in den Augen der Angetrunkenen aufglimmen.
    Einer, der bisher noch nicht den Mund aufgemacht hatte, wiederholte: »Jerusalem ist verloren.«
    Es folgte ein langes Schweigen. Der Gastwirt Lieb betete leise, mit zitternden Lippen. Langsam ging die Sonne unter. Die Bauern sahen sie schwinden. Noch immer hockten sie stumm, stierten vor sich hin. Da schrie ein Junger, der betrunkener war als die anderen, ein Wort - das tödliche, das grauenhafte Wort, das, einmal ausgespien, niemals mehr zurückzunehmen war. »Hep!« Mehr schrie er nicht. Lieb wurde weiß vor Angst.
    »Hep!« Jetzt nahm der erste Bauer den Schrei auf. Lieb blickte sich um, ob er noch die Tür erreichen konnte.
    »Hep! Hep!« schrien jetzt alle Bauern. Die Juden im Dorf, die das unheilvolle Wort hörten, verrammelten ihre Fenster. Lieb, dessen Gesicht jetzt von panischer Angst verzerrt war, wich in eine Ecke voller Flaschen zurück. »Hep! Hep!« brüllten die Betrunkenen.
    Und dann sprang plötzlich ein junger Bauer von seinem Stuhl auf, warf sich auf die Theke, taumelte weiter, bis er den Gastwirt vor sich hatte, riß ein Messer aus einem Stück Fleisch, stürzte sich auf den schreckensbleichen Juden und schnitt ihm die Kehle durch.
    »Hep! Hep!« - »Hep! Hep!« johlte die inzwischen angewachsene Menge, während sie sich auf den jüdischen Teil des Dorfes zuwälzte. »Hep! Hep!«: das war der uralte Kampfschrei des Pogroms. Hierosolyma est perdita -Jerusalem ist verloren: Die Tatsache, daß Jerusalem, die ferne Stadt, die keiner von den Schreienden kannte, irgendwann einmal an die Ungläubigen verlorengegangen war, wurde zum sinnlosen Vorwand für den Judenmord. Wenn irgendein Volk der Welt das Recht hatte, um den Verlust der Heiligen Stadt an den Islam zu trauern, dann waren es die Juden - aber daß »Jerusalem verloren« war, genügte, sie hinzuschlachten.
    Es gab wohl einige, die wußten, wie aberwitzig dieses »Hep! Hep!«-Schreien war. Aber sie hatten einen anderen Ruf, einen von gleicher Durchschlagskraft: »Der Jud hat unseren Heiland gekreuzigt.« Und was auch immer geschrien wurde, es stachelte die Raserei des Pogroms nur noch um so heftiger an: »Schlagt die Juden tot!« Nachdem die Bauern das Ghetto ihres eigenen Dorfes zerstört hatten, stürmten sie weiter durch das Land. Männer von jedem Hof am Weg stießen zu der tobenden Rotte. Und nun erreichten die Rasenden Wodsch. Einer brüllte: »Der Pachteinnehmer! Jetzt geht’s dem an den Kragen!« Das da war Kagans Haus! Krachend ging die Tür in Trümmer. Johlende Begeisterung, als dem Vater Kagan der Schädel eingeschlagen wurde. Das gleiche Johlen, als man seiner Frau den Bauch aufschlitzte. Mit Äxten und Hacken übten Christen Rache für das verlorene Jerusalem. Vier bärtige Chassidim, die versuchten den Hof des Rebbe zu erreichen, trampelten sie zu Tode. Dann stürmte der Mob den Hof des Rebbe. Dort fanden sie den hochgewachsenen Mann, wie er - in Verzückung der schauerlichen Gegenwart entrückt - mit neun seiner engsten Freunde tanzte. Einen Augenblick zauderten die Bauern beim ungewohnten Anblick dessen, was hier geschah: Zehn Männer bereiteten sich, ihre Seelen läuternd, auf den Tod vor. Aber schon sprang einer der Betrunkenen den Rebbe an und schrie gellend: »Hat er nicht Christus gekreuzigt?« Und so wurde der Rebbe von Wodsch dahingemordet, sein Bart angezündet, sein Leichnam durch die Gassen geschleift, dorthin, wo mehr als sechzig Kinder, Frauen und alte Männer abgeschlachtet und ihre Körper durch die Luft geschleudert wurden wie Weizengarben bei der Ernte. Jerusalem war verloren. Christus war gestorben. Jüdisches Blut war vergossen. Und armselige stumpfsinnige Bauern hatten im Blutvergießen Trost für ihren trunkenen Kummer gefunden, daß Jerusalem verloren und Christus gestorben war.
    Schmul Kagan kehrte gerade noch rechtzeitig zur Beisetzung seiner Eltern und des Rebbe nach Wodsch zurück. In jener Nacht entschloß er sich, Rußland zu verlassen. Denn

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