Die Quelle
der Mensch nicht überhaupt erst sehr spät erkannt hat, daß er allein, im Gegensatz zu allen Tieren, in der Lage ist, sein Handeln auf die Zukunft zu richten. Ganz gewiß war es richtig, sich den frühesten Menschen als ein Lebewesen vorzustellen, das in den ersten zwei Millionen Jahren seines Werdens noch nicht fähig gewesen war, sich selbst als außerhalb der unbelebten und belebten Welt ringsum stehend zu begreifen. »Wenn ich also das Wort er benutze, um einen Mann in einem Haus an einer Quelle zu bezeichnen, spreche ich von einer so großartigen geistigen Revolution, daß mir die Worte fehlen, sie zu beschreiben«, notierte Cullinane. Er legte die Feder fort und versank in Nachdenken: Wie gerne sähe ich die Augen des Menschen, der zum erstenmal Weizen angebaut hat. Oder des Menschen, der zum erstenmal einen wilden Hund zähmte; dessen, der zum erstenmal in einer Art Hochzeitsfeier seine Tochter einem Mann zur Ehe gab. Oder der auf den Gedanken kam, daß auf der Höhe des Berges ein Gott wohnt.
Trug - dieses Wort in dem Sinn, in dem Cullinane es benutzt hatte, bedeutete eine ganze Stufenleiter gesellschaftlicher Entscheidungen und das Endergebnis vieler moralischer Urteile. Warum hatten sich die Menschen überhaupt entschlossen, etwas zu tragen? Wieviel hatte die Kälte an dieser Entscheidung mitgewirkt und wieviel der Wunsch, sich die Kraft der Tiere anzueignen, deren Haut man trug; wieviel die Scham, wie es im Ersten Buch Mose angedeutet wird? Und als dann die ersten Menschen etwas zu tragen begonnen hatten
- welchen Zwang übten sie dann auf die anderen aus, es ihnen gleichzutun? Wann entdeckten die Frauen, daß sie fraulicher waren, wenn sie Schmuck trugen, der sie von den Männern unterschied? Diese Frage ist bedeutungsvoller, als der Laie denken mag, denn in Israel hat man Perlen gefunden, die bis zum Jahr 40000 v.Chr. zurückdatiert werden können, und es gibt Belege, daß Parfüm schon hergestellt wurde, als die Kunst des Schreibens noch nicht erfunden war. Der Chicagoer Geschäftsmann, der sich ärgert, wieviel Geld er für den Schmuck seiner Frau ausgeben soll, müßte einmal eine vorgeschichtliche Höhle besuchen, dachte Cullinane. Dort würde er sehen, daß seine Frau in einer langen Tradition steht. Eine Frau braucht ihren Schmuck, wie der Mann sein Essen braucht. Es ist jedoch bemerkenswert, überlegte er weiter, und ein bis heute ungeklärtes Geheimnis, warum die Männer unserer Zeit, die doch wissen, daß bei so vielen Tieren, vor allem bei den Vögeln, die Männchen und nicht die Weibchen ein farbenfroh buntes Kleid tragen, für sich selbst dieses fundamentale Gesetz auf den Kopf stellen. Hier muß es sich wohl, überlegte Cullinane, um einen der wesentlichen Unterschiede zwischen Tier und Mensch handeln: Die Menschen sorgen dafür, daß das weibliche Geschlecht das schönere ist. Was jedoch die Fragen wie Nützlichkeit, Kult und Tabu betraf, die alle bei dem Begriff tragen mitspielen, so dachte er darüber lieber nicht weiter nach.
Irgendeiner wird irgendwann einmal genau darstellen können, wie sich das alles entwickelt hat, wenn erst genug Fundstätten erschlossen sind und genug Forschungsarbeit geleistet ist. Inzwischen wußte man es eben nicht. Aber soviel wußte man: daß fast jedes Wort, das für ein Werturteil stand, seine einzigartige, Hunderttausende von Jahren alte Geschichte hat, eine Geschichte, älter als die Zeit, in der die Menschen das Sprechen lernten. Cullinane grübelte weiter darüber nach, welche Macht wohl jenem kategorischen Befehl: »Tragt Kleider!« zu seiner Wirkung innerhalb der menschlichen
Gesellschaft verholfen hatte. Und er erinnerte sich dabei dunkel an die Worte, die er in seiner Dienstzeit als Offizier auf den Salomonen gesagt hatte - jenen Inseln, in deren heißestem und feuchtestem Teil noch alle Männer und Frauen mindestens einige Kleidungsstücke trugen: »Das tun die bestimmt nicht, weil es ihnen kalt ist.«
Häute, das letzte Wort in dem bedeutungsschweren Satz ließ erkennen, wie wenig wir über die Uranfänge der Technik wissen. Wann in der Geschichte der Menschheit hat ein kluger Kopf den Einfall gehabt, daß man Tierhäute vom Fleisch sauberkratzen, in der Sonne trocknen, mit Fett und dem Saft von Galläpfeln einreiben und auf diese Weise primitiv gerben kann, so daß ein geschmeidigtes Material entstand, das sich dem menschlichen Körper anlegte? Diese Frage, überlegte Cullinane, wirft so viele Probleme auf, daß nur ein Supererfinder wie
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