Die Quelle
Grabung zuwenden. Dabei merkte er jedoch, daß jeder Satz, mit dem er etwas aus dem Werden der menschlichen Gesellschaft darstellen wollte, ungenau sein mußte, es sei denn, er erklärte sorgfältig Wort für Wort. Schon die einfachste Formulierung verlangte Präzision, vor allem aber den warnenden Hinweis, daß ein Satz im Jahre 9000 v. Chr. etwas ganz anderes bedeutet hatte als heute. So hatte Cullinane zum Beispiel beschreiben wollen, wie die
Bekleidung einer Familie in jenen frühen Zeiten ausgesehen haben mochte. Von dem Vater hatte er notiert: »Er trug Häute.« Aber im gleichen Augenblick, in dem die drei Wörter vor ihm auf dem Papier standen, wurde ihm klar, daß jedes einer besonderen Erläuterung bedurfte, wenn es verständlich sein sollte.
Er, das Fürwort, das einen unter vielen bezeichnet - das menschliche Einzelwesen, das sich von allen anderen unterscheidet, mit seinem ihm eigenen Willen, seinem Schicksal und seiner einmaligen Persönlichkeit -, war ein Begriff, der erst spät in der Entwicklung der Menschheit aufgetaucht sein konnte. Als Cullinane über dieses er nachdachte, kam er auf eine ganze Reihe philosophischer Probleme. Ursprünglich hatten Männer und Frauen, in größeren oder kleineren Gruppen vereint, in Höhlen gewohnt. Natürlich hatte man zwischen den Geschlechtern unterschieden, aber sonst hatte es wohl kaum weitere Unterschiede gegeben. Ein neugeborener Knabe war eben ein Knabe und weiter nichts. Mit vierzehn oder fünfzehn war er stark genug, sich durchzusetzen. Mit dreißig war er ein alter Mann. Sobald er den ersten Zahn verloren hatte, fühlte er den Griff des Todes an seiner Kehle, denn der Tag konnte nicht mehr weit sein, an dem er kaum mehr fähig war, sich seine Nahrung zu erkämpfen und sie mit den Zähnen von den Knochen zu reißen. Wenn er gar vierzig Jahre alt wurde, war er ein weißhaariger Weiser, der nur deshalb noch lebte, weil eine gutmütige Frau ihn mit Nahrung versorgte. Das Menschendasein spielte sich als ein verschwommen unbestimmtes Schicksal innerhalb einer ungegliederten Horde ab. Fast eine Million Jahre lang - so zeigten es jedenfalls die Funde in Israel - wurde sein Sterben nicht einmal durch eine Art Bestattung gewürdigt. Das Erkennen des er, des Einzelmenschen als eines einmaligen Wesens, hatte wahrscheinlich erst in einer weiter gegliederten Gesellschaftsordnung stattgefunden, in der man den Einzelnen genauer unterschied: Er hatte nun eine bestimmte Tätigkeit oder bewohnte einen bestimmten Teil der gemeinsamen Höhle. Damit aber hatte er seine nur ihm eigenen Kennzeichen, die sich allmählich immer deutlicher ausformten und ihn seinen Platz innerhalb der Anforderungen einer sich formenden geordneten Gesellschaft einnehmen ließen. So bildete sich um ihn sein persönlicher Raum, der ihm allein gehörte, entstand seine persönliche Rolle und sein persönliches Verhalten, das ihn von allen anderen unterschied. Am wichtigsten wurde jedoch, daß er - vielleicht vor zwanzigtausend Jahren - eine für ihn kennzeichnende Art des Denkens entwickelte. Das muß ein schreckliches, schmerzvolles Geschehen gewesen sein, überlegte Cullinane: Vor der Sippe in der Höhle hatte so ein Mann zu rechtfertigen, was sich aus dem ihm eigenen Denken ergab. Noch ein Weiteres aber gehörte zu diesem Wort er: Es bedeutete, daß der, der nun ein er war, in einer bestimmten Beziehung zu den Mächten in der Welt ringsum stand; er kannte nun seinen Platz inmitten dieser Welt, und damit bekam er zugleich ein kräftiges Bewußtsein seiner Eigentümlichkeit. Diese Entwicklung hatte sicherlich erst recht spät stattgefunden, innerhalb der letzten zehn- oder zwölftausend Jahre, schätzte Cullinane, in einer Epoche, die man das Zeitalter des Grübelns nennen könnte. Bis dahin hatten die Menschen gewußt, daß Mächte in der Welt ringsum wirksam waren, aber sie hatten auch gewußt, daß der Mensch zu schwach war, auf diese einwirken zu können. Zwischen Mensch und Gewitter bestand so etwas wie eine Art Waffenstillstand; mit den Tieren lagen die Menschen im offenen Krieg. Soweit Cullinane wußte, war der Hund - das Tier, das so wichtig wurde für die frühen Hirtenvölker - in anderen Gegenden der Erde bereits um 12000 v. Chr.
domestiziert worden, in Makor jedoch erst um 7000 v. Chr. Die Haustiere, die der Hund zu hüten hatte, Rind und Schaf -die Tiere, ohne die alle spätere Kultur nicht denkbar ist -, wurden erst wesentlich später gezähmt. Es ist zweifelhaft, dachte Cullinane, ob
Weitere Kostenlose Bücher