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Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A Michener
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Thomas Edison wüßte, wo man anfangen soll. Wahrscheinlich hat es fünfzigtausend Jahre gedauert, bis eine Erfahrung nach der anderen gesammelt, bis der ganze schwierige Vorgang gemeistert war. Er wiederholte: fünfzigtausend Jahre - eine unfaßlich lange Zeit, zehnmal so lang wie die gesamte schriftlich überlieferte Geschichte der Menschheit, und doch sicherlich nur ein Bruchteil der gesamten Zeit, die der Mensch gebraucht hatte für die Lösung des Problems, Häute zu bearbeiten. Cullinane wußte, daß um 40000 v. Chr. die Bewohner der Höhlen am Berg Karmel Feuersteine mit gezackten Schneiden hergestellt haben, wohl zum Abschaben der Häute. Wahrscheinlich hatte damals schon die Entwicklung des Gerbens zumindest begonnen. Das Wort Häute warf jedoch noch weitere, noch interessantere technische Probleme auf. Es ist sehr wahrscheinlich, dachte Cullinane, daß unsere Menschen von Makor um 9000 v. Chr. Häute getragen haben, die ihnen paßten. Zusammengenäht, wenn man so will. Woher aber hatten sie die Nadeln? Oder den
    Faden? Und, was am wichtigsten war, den Einfall? Dies zu beantworten war überhaupt das Schwierigste, denn irgendwann mußte doch wohl eine Gruppe Menschen die Intelligenz aufgebracht haben, sich zu sagen: »Jetzt nähen wir unsere Häute zusammen.« Sicher fand sich eine Möglichkeit, sie aneinanderzuheften, aber wer hatte den Vorschlag gemacht? Ob es eine Frau gewesen war, die einen Vogel beim Nestbau beobachtet hatte, wie er mit seinem spitzen Schnabel und mit Halmen gleichsam nähte? Hatte man diese Technik erst einmal begriffen, war der Rest verhältnismäßig einfach. Nehmen wir wieder rund fünfzigtausend Jahre an, dachte Cullinane. Der Mann dieser Frau hat ihr vielleicht einen Feuerstein zurechtgeschlagen, so daß sie nun eine Ahle hatte. Oder er hat einen Rehknochen gefunden, den er schärfte, oder das Stück eines menschlichen Schienbeins, das sich als Nadel verwenden ließ. Nach und nach, da und dort mag sich in einem Zeitraum, der kaum vorstellbar ist, durch Versuch und Irrtum die Technik entwickelt haben. Und wenn wir heute ermessen, was für ein unbeugsamer Wille dazu gehört hat, etwa eine Haut soweit zu behandeln, daß sie zu gebrauchen war, so werden wir ganz bescheiden angesichts der unendlich langen Jahre, der Mühsal ungeübter Finger, der Schwerfälligkeit des Kopfes und des Ringens um Erfolg - angesichts all dessen, was selbst zum scheinbar einfachsten Tun gehörte. Er trug Häute. »Welch ein unendliches Verständnis ist dazu nötig«, schrieb Cullinane in seinem Bericht,»diesen schlichten Satz zu begreifen, in den so vieles einbeschlossen ist.« Das erste Wort erfordert philosophisches Denken, das zweite verlangt Überlegungen über die gesellschaftliche Ordnung und das dritte Erwägungen über technische Dinge; Cullinane schloß damit, daß der Leser in jeder dieser drei Gruppen wiederum drei grundlegende Entwicklungen begreifen müsse. In der Philosophie: die Sprache, das Bewußtwerden des Selbst, die Vorstellung von
    Gott. In der Gesellschaftsordnung: die Domestizierung von Getreide und Nutzvieh, die Einhaltung bindender Normen durch die Gruppe, den Begriff der Gemeinschaft. In der Technik: die Feuergewinnung, die Herstellung von Gerät aus Feuerstein und das Prinzip des Hebelarms. Er betrachtete seine vier Feuersteinstücke und überlegte, wie wohl eine Menschenhand vor elftausend Jahren diese einfachen, schönen Werkzeuge hatte schaffen können. Jetzt war er wieder da, wo er begonnen hatte: »Wie kann ich die Tausende von Jahrhunderten darstellen, die es gedauert hat, bis der Mensch so weit war, den Feuerstein vollendet zu bearbeiten?« Und noch eine, noch wichtigere Frage: »Wie kam er überhaupt auf den Gedanken, eine Sichel herzustellen?«
    Voller Wut schlug Urs Tochter immer noch auf den jungen Jäger ein. Sie hätte am liebsten Steine genommen, aber Vater und Bruder hielten sie fest. Wütend riß sie sich von ihnen los und lief zurück zu ihrem Hund, warf sich auf das Tier und umarmte seinen schönen Kopf. Das herrliche Geschöpf, das ihre Freundschaft gesucht hatte, war tot, und nie wieder, so glaubte das Mädchen, würde sie einen Freund finden wie diesen. (Aber in späteren Jahrtausenden, wenn sie selbst lange tot war, sollten andere Mädchen von Makor, ebenso einfühlsam wie sie, andere Hunde dazu bringen, den Wald zu verlassen und sich dem Menschen anzuschließen.) »Oh! Oh!« schluchzte sie und schlug mit den Fäusten auf den Felsen aus Schmerz über den

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