Die Quelle
lang gestreckt auf dem Boden, war wie am Abend zuvor an den Heizkörper gefesselt. In ihrem Mund steckte ein olivfarbenes Tuch, das von einem Stück Schnur gehalten wurde, welches am Hinterkopf zusammengebunden war.
Kempers Platz war leer.
»Wo ist der Kerl?«, schrie Duvall.
Er zerrte die Frau auf die Knie und löste die Schnur, riss ihr den Knebel aus dem Mund. Die Frau keuchte und würgte, während Duvall schreiend seine Frage wiederholte.
»Ihr ... Freund ... hat ihn ... mitgenommen.«
Er verstand sie kaum, so leise antwortete sie. Und ihr lang gezogenes Stöhnen zwischen den Worten lenkte ihn ab, nervte ihn.
»Wann?«
Statt zu antworten, fiel sie auf die Seite. Der Blutstau der langen Fesselung hatte ihr jede Kraft aus den Beinen gesaugt. Duvall hockte sich neben sie und riss sie an der Schulter herum. Er packte sie mit beiden Händen am Kopf und zog sie zu sich heran. Ihre Augen waren voller Tränen.
»Wann?«
»In der Nacht.«
Ihre Stimme war kaum zu hören.
Er ließ ihren Kopf einfach los.
Gut fünfhundert Meter vom Haus entfernt entdeckte Duvall die Stelle, an der Fahrspuren vom Feldweg unter die Bäume in das Unterholz führten. Die Büsche mit den abgeknickten Zweigen und das niedergewalzte Gras zwischen den Baumstämmen waren eindeutig.
Duvall wollte sich schon umdrehen, als ihm einige Schritte weiter eine Kuhle im Waldboden auffiel, die mit Zweigen abgedeckt war. Die Anhäufung wirkte seltsam künstlich, aufgetürmt. Hastig aufgetürmt.
Er war noch gut fünf Schritte von der Erdkuhle entfernt, als er das bleiche, blutleere Gesicht eines älteren Mannes ausmachte, das nur halb von Ästen und Laub bedeckt war. Der Tote war mit einem sattblauen Arbeitsoverall bekleidet, der die Blässe des leblosen Gesichts noch verstärkte. In der linken Stirnhälfte sah er das Einschussloch.
Vermutlich, so nahm Duvall an, war Ferrand bis zur Landstraße gelaufen und hatte es tatsächlich geschafft, ein Auto anzuhalten. Die Entscheidung, einer nachts auf der Landstraße heftig winkenden Person zu helfen, hatte den Samariter das Leben gekostet.
Er durfte die Leiche so nicht liegen lassen. Sie konnte durch einen dummen Zufall entdeckt werden. Von einem Spaziergänger, von einem Jäger. Die würden die Polizei rufen, und dann war er hier nicht mehr sicher.
Zunächst dachte er daran, einen Spaten zu holen und die Leiche an der Stelle mit Erde zu bedecken. Aber die Spuren seiner Graberei konnten genauso auffallen wie der tote Körper selbst, wenn er ihn einfach liegen ließ.
Fluchend warf er die Äste beiseite und zerrte die Leiche aus der Grube, schulterte sie und stapfte zurück zum Haus, wo er sie hinter dem Wagen fallen ließ.
Um sich abzulenken, überprüfte er, was Ferrand mitgenommen hatte. Nach ein paar Minuten war klar, dass er nur eingepackt hatte, was von praktischem Nutzen für seine Flucht war. Natürlich hatte Ferrand es eilig gehabt. Und er war bedacht gewesen, ihn nicht zu wecken. Deshalb hatte er wohl auch den Versuch abgebrochen, ihm sein Geld zu stehlen. Davon war Duvall fest überzeugt. Vielleicht hatte er sich gedreht oder kurz die Augen geöffnet. Was auch immer. Auch Kempers Handy und Ausweis steckten noch in Duvalls Hosentasche.
Dafür fehlten die letzten Reste Proviant und das transportable Navigationsgerät. Und Ferrand hatte die Reservemunition fast vollständig mitgenommen.
Duvall rieb sich mit den Händen über das Gesicht und zuckte zusammen, als er sein linkes Auge berührte. Die Wut kochte erneut in ihm hoch. Die Kameradensau hatte sich mitten im Schlamassel abgesetzt und ihr Tauschobjekt mitgenommen. Minutenlang war er unfähig, sich zu beruhigen.
Schließlich trank er ein paar Schlucke Wodka, und allmählich wurde seine Mordlust von den Überlegungen verdrängt, wie er mit der Situation umgehen sollte. Er hatte nichts, aber auch nichts mehr in der Hand, um für sich noch etwas aus der verfahrenen Situation zu machen. Er durfte froh sein, wenn er unbemerkt verschwinden konnte.
Wohin? Frankreich. Ferrands Haus. Irgendwann würde der dort auftauchen. Dann würde er eine lange Abrechnung präsentieren.
Die Frau, dachte Duvall. Sie war eine unliebsame Zeugin und lästiger Ballast.
Damit war ihr Schicksal klar.
Aber zunächst musste er so viel wie möglich aus ihr herausholen. Über Kemper, über das Experiment, über einfach alles.
Vielleicht wusste sie irgendetwas, das ihm helfen würde. Und wenn sie nicht reden wollte, dann würde er es aus ihr herausquetschen.
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