Die Quelle
brachte.
Plötzlich schien alles vollkommen klar. Wenn er nichts sagte, würde seine Frau leiden. Wenn er etwas sagte, konnte es falsch sein, und seine Frau würde ebenfalls dafür büßen müssen. Aber es bestand immerhin die kleine Chance, dass die Überlegungen, die sie angestellt hatten, richtig waren.
Diese kleine Chance musste er nutzen.
Bisher hatte er in seinem Leben doch immer mit den großen, scheinbar verwegenen Schritten Erfolg gehabt.
»Ich muss nach Paris. Zur Internationalen Energieagentur. Dort gibt es jemanden, der weiß, wo sich die Unterlagen befinden.«
»Gibt es auch einen Namen?«
»Moritz. Timo Moritz«, erwiderte Benn schnell und wartete voller Anspannung auf die Reaktion des Entführers.
Die Stille zerrte an Benns Nerven. Er sah förmlich, wie der Entführer das Handy zur Seite legte und auf Francesca zuging, um ihr erneut wehzutun.
»Sehr gut. Ich sehe, Sie verstehen. Hören sie jetzt genau zu. Ich gebe Ihnen zwei Tage, die Unterlagen herbeizuschaffen. Zwei Tage ...«
»Wie soll ich das denn hinkriegen? Wir haben Stromausfall in ganz Europa. Kein Zug fährt. Alle Flughäfen sind geschlossen. Wie soll ich das schaffen?«, schrie Benn.
»Sie haben zwei Tage. Und ich werde Sie kontrollieren. Immer wieder. Wenn ich das nächste Mal anrufe, sind Sie auf dem Weg. Wie Sie das machen, ist mir egal. Wenn nicht ... Bis jetzt habe ich Ihrer Frau nur einen kleinen Schnitt hinter dem Ohr verpasst ...«
»Ich möchte mit meiner Frau reden. Und mit Kemper.«
»... aber beim nächsten Mal bin ich nicht mehr so nachsichtig. Dann wird es ernst. Ein Stück vom Ohr oder von der Nase. Oder ich setze den nächsten Schnitt oben an der Stirn an. Skalpieren nennt man das. Vielleicht sammele ich die Teile auch, damit Sie später wenigstens ein paar verfaulte Stücke beerdigen können.«
Die Verbindung brach ab.
»Er macht es wahr. Er ist so einer«, flüsterte Benn vollkommen erschüttert zu sich selbst.
Dritter Tag
MITTWOCH
26. OKTOBER 2016
Kapitel 28
PARIS
Benn stoppte den Wagen am Parc de Bercy, nachdem sie am Porte de Bercy die Autobahn verlassen hatten. Er stieg aus, um die Steifheit aus den Beinen zu schütteln und die Anspannung zu bekämpfen, die der bevorstehende Anruf des Entführers in ihm auslöste.
Er schaltete das Handy ein und sah sich um. Zur linken Hand floss träge die Seine. Im Park rechts von ihm zog das Palais Omnisports seine Blicke an; mit seiner auffallenden Pyramidenform war der mächtige Veranstaltungstempel ein nicht zu übersehendes Wahrzeichen im Pariser Osten.
Sie waren praktisch allein unterwegs. Selbst die großen Ausfallstraßen glichen öden, grauen und nutzlosen Asphaltwüsten. Ohne Strom kein Benzin, ohne Benzin kein Verkehr. Die Blutzufuhr war auch hier zum Erliegen gekommen.
Unter diesen Umständen war es fast schon ein kleines Wunder, dass er es bis Paris geschafft hatte. Alle hatten am Vortag nach dem Anruf des Entführers auf ihn eingeredet, dass er natürlich nicht auf die Forderung eingehen könnte. Aber er hatte sich durchgesetzt.
Für einen Moment tauchte er in die Erinnerung ab ...
»Sie müssten nach Paris. Ohne jede Sicherheit, dort zu finden, was Sie erhoffen. Und Sie wären damit noch weiter von Ihrer Frau entfernt als jetzt«, hatten sie argumentiert.
»Das weiß ich selbst. Überzeugen Sie mich mit einer besseren Idee!«, erwiderte Benn und ließ keine der Bedenken gelten, die der Staatsanwalt und die Kommissarin vorbrachten. »Ich werde den kleinsten Zipfel ergreifen, um meine Frau zu retten. Der Kerl hat doch zugegeben, dass wir mit diesem Timo Moritz in Paris auf der richtigen Spur sind.«
»Vielleicht konnte er gar nicht anders, als so zu tun, als hätten Sie recht«, sagte die Kommissarin und spielte wieder auf ihre Überlegung an, dass Kemper womöglich gar nicht mehr in der Hand des Entführers war.
»Wenn er verlangt, dass ich nach Paris fahre, dann fahre ich nach Paris. Im Zweifel mache ich es allein. Irgendwie«, sagte Benn schließlich.
»Wir helfen Ihnen. Sie bekommen volle Unterstützung«, entschied Hagen, nachdem die Meldung hereingereicht worden war, dass die Polizei weiter im Dunkeln tappe.
Benn hatte sich zunächst gewundert, in Hagen plötzlich einen Verbündeten zu finden. Aber dann war ihm sehr rasch der Eigennutz klar geworden, der dahintersteckte. Natürlich wollte auch Hagen jede Chance nutzen, die zu den Unterlagen führen konnte.
Das Handyklingeln riss Benn aus seinen Erinnerungen.
Er winkte
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