Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
Altstadt zu gelangen. Er war eins mit den Schatten. Sein dunkler, eng anliegender Overall verschmolz mit der Dunkelheit, während sein angestrengtes Keuchen von den Hauswänden widerhallte.
Endlich erreichte Michael die Rückseite des Hauses Nr. 24 in der Rue de Fleur. Das unscheinbare fünfstöckige Gebäude schien über Nacht leer zu stehen. Doch Michael wusste, dass die kostbarsten Dinge oft hinter Unscheinbarem versteckt wurden.
Da der Schneefall allmählich nachließ, grub Michael die Finger in die Ritzen zwischen den Granitblöcken, prüfte, ob er ausreichend Halt hatte, und war dankbar für seine geriffelten Handschuhe, die ihm zusätzliche Griffsicherheit verschaffen konnten. Er blickte hinauf zum Dach. Wegen der Schneeböen entstand der Eindruck, als führe der Aufstieg in eine gespenstische weiße Hölle.
Michael konzentrierte sich, ließ sich von nichts ablenken. Ihm blieb nicht viel Zeit, bis das Feuerwerk begann. In weniger als einer Minute musste er ihren letzten Wunsch erfüllt haben, sonst gab es keine Chance mehr.
Michael zog den Rucksack straff und machte sich an den Aufstieg.
»Nascentes morimur. Mit unserer Geburt beginnt unser Sterben«, sprach der Priester, und der Wind wehte ihm sein dunkles Haar in die Stirn. Er war hochgewachsen, mit breiten Schultern. In seinen kräftigen Händen hielt er einen Rosenkranz. Pater Simon Bellatori sah eher wie ein ergrauter Armeeoffizier aus, nicht wie ein Geistlicher, und seine tiefe Stimme wäre besser geeignet gewesen, Befehle zu erteilen, als Segnungen zu sprechen. »Manche halten den Körper für ein Gefängnis, das uns an unsere sterbliche Hülle fesselt, während unsere Seelen unsterblich sind und darauf warten, vom Fleisch erlöst zu werden in der Hoffnung auf das Himmelreich. Denn dort ist das ewige Leben, und dort wird unsere Schwester Genevieve nun für immer wohnen.«
Die kleine Gruppe stand auf einem historischen Friedhof vor den Toren Roms. Der graue italienische Winter ließ Michael frösteln, und er blickte zur Stadt, wo in der Ferne die Kuppel der Peterskirche zu sehen war. Er senkte den Kopf, als er am Grab stand und den Gebeten lauschte, die sein Freund, der Pater, sprach. Während die wenigen anwesenden Trauergäste kleine Missalen und Gebetskarten in den Händen hielten, umklammerte Michael mit festem Griff einen Manila-Umschlag. Dieser Umschlag war mit einem blauen Kreuzzeichen blasoniert und auf den Tag genau vor einer Woche angekommen …
Sie saß auf der Treppe seines Hauses und streichelte Michaels Hunde, Hawk und Raven, die sie mit ihrem üblichen Gebell begrüßt hatten.
»Guten Morgen, Schlafmütze«, sagte Genevieve und blickte mit einem warmen Lächeln zu ihm auf. Sie trug einen langen weißen Mantel und hatte ihr dunkles Haar zu einem Knoten aufgesteckt. Ein einreihiges Perlenarmband lag um ihr Handgelenk, und ein antikes Kreuz schmückte ihren Hals. Sie war gebildet und kultiviert, was Michael noch fröhlicher lächeln ließ, als er auf sie hinunterblickte und beobachtete, wie sie mit seinen beiden Berner Sennenhunden kuschelte.
»Wenn ich gewusst hätte, dass du kommst …«
»Hättest du dich dann rasiert und das Haus geputzt?«, erwiderte Genevieve lachend und mit ihrem leichten italienischen Akzent.
Der Tod von Michaels Ehefrau hatte Genevieve und Michael zusammengeführt. Pater Simon Bellatori aus dem Vatikanischen Archiv hatte Genevieve geschickt, um Michael das Mitgefühl des Vatikans und das persönliche Beileid des Papstes zum Tod von Mary St. Pierre auszusprechen.
Dass Genevieve ein Waisenhaus gehörte, war mehr als eine Ironie des Schicksals. Es war kein Zufall, dass Pater Simon sie geschickt hatte. Michael war seit seiner Geburt Waise, und obwohl er von liebenden Eltern adoptiert und großgezogen worden war, fühlte er sich allen Menschen verbunden, die ein ähnliches Schicksal erlebt hatten wie er selbst.
Die Beziehung zwischen Genevieve und Michael war über die letzten sechs Monate enger geworden. Für Michael war Genevieve wie eine große Schwester. Sie verstand seine inneren Qualen, seinen Schmerz. Wenn sie ihn tröstete, tat sie es stets mit knappen Worten und ohne jede Schwülstigkeit, denn sie wusste, dass jeder Mensch Verluste auf seine ganz eigene Weise erlebte und auf ganz persönliche Art trauerte. Und nie verurteilte sie Michael wegen seiner kriminellen Vergangenheit, sondern stellte sich auf den Standpunkt, dass ungewöhnliche Begabungen Segen und Fluch zugleich sein konnten und dass der
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