Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
näherten sich aus Richtung des Gangs, aus dem sie gekommen waren, kratzten über den Stein.
Una und Kanura erstarrten und sahen sich um. Was auch immer das war, es schien aus dem Turm mit den Toten zu kommen. Doch da war niemand gewesen – zumindest niemand, der noch lebte. Oder gab es hier noch weitere Gänge, die sie bislang nicht gefunden hatten?
» Was ist das? « , flüsterte Una ängstlich.
» Ich weiß es nicht « , wisperte er zurück.
Sämtliche Horrorfilme, die Una je in ihrem Leben gesehen hatte, schossen ihr durch den Kopf. Die Leichen im Turm. Waren die nun hinter ihnen her?
» Skelettkrieger? Gibt es hier so etwas wie Skelettkrieger? « , fragte sie panisch.
Er starrte sie an. Sie starrte zurück.
» Nicht, dass ich wüsste « , murmelte er. » Aber was weiß ich schon von dieser Welt? So als Bildungsverweigerer. «
Sie sah ihn wütend an. Ihre Beleidigung hatte er sich offenbar gemerkt.
» Das ist jetzt nicht der Zeitpunkt, mir eine reinzuwürgen! « , zischte sie ihn giftig an. » Mein Prinz! «
Er nickte.
» Nein. Das ist der Zeitpunkt, durch diese Tür zu verschwinden und sich aus dem Staub zu machen. Los! « , befahl er.
Doch vielleicht würden sie hier gar nicht herauskommen. Schließlich war dieses Gemäuer einst ein Gefängnis gewesen. Vielleicht würden sie hier enden, zwischen all den Leichen.
Sollten Gerippe wirklich auferstehen können, würden es gleich ziemlich viele sein. Unsinn!, dachte sie. So etwas gibt es nicht.
Ihr Blick fiel auf den Leberfleck an Kanuras der Schläfe. Einhörner, Kentauren, Kelpie-Pferde und sprechende Erdmännchen gab es ja auch…
Die Schritte kamen immer näher. Kanura griff nach der Klinke.
Sie mussten durch diese Tür.
Una musste hier raus.
Kapitel 45
Kanura war wütend. Der Verlust seines Horns machte ihn nicht nur fahrig, sondern verursachte ihm auch latente Schmerzen, die inzwischen sein ganzes Sein durchdrangen. Es war mehr als nur ein psychischer Schmerz, mehr als nur das Wissen um den Verlust. Es tat weh. Und dass etwas, das gar nicht da war, so wehtun konnte, erschütterte ihn. Doch er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken.
Das Mädchen war ihm davongerannt.
Er konnte Una nicht verstehen. Tatsächlich hatte er sich nie besonders intensiv mit Menschen befasst. Es gab sie. Sie waren anders. Sie hatten das Recht, anders zu sein und so zu leben, wie sie es für richtig befanden – solange sie in Talunys niemandem schadeten. Aber dieses Mädchen schien rätselhafter zu sein als alle anderen Menschen Talunys’ zusammen. In einem Moment war sie ihm gegenüber völlig respektlos, und dann hatte sie plötzlich wieder entsetzliche Angst vor ihm.
Ihn zu ärgern, machte jedoch nichts einfacher!
Er war es nicht gewöhnt, von Menschen respektlos behandelt zu werden, immerhin war er der Sohn des Fürsten, und den Menschen war das meist noch wichtiger als den Tyrrfholyn. Nun würde Unas Benehmen sie in große Gefahr bringen, denn sie war, kaum dass er die Tür geöffnet hatte, hindurchgeschlüpft und davongerannt, während er noch versuchte, zwischen sich und dem, was ihnen nachkam, wieder ein Hindernis zu bilden.
Wo war sie jetzt hin?
Kanura hätte die Flügeltüren der Gefängniswerkstatt wirklich gerne wieder fest hinter sich verschlossen. Da er sie jedoch mit Gewalt und Magie hatte öffnen müssen, rastete das alte Schloss nun nicht mehr ein.
Vielleicht, dachte er, hätte er sich einfach dem stellen sollen, was aus dem Gang gekommen wäre. Unas Idee von Skelettkriegern, die sich aus dem Staub des Todes erhoben, um Eindringlinge zu verfolgen, war gänzlich aus der Luft gegriffen. Sie entstammte nicht dem Kanon von Instinkt und Erfahrung dessen, was es in seiner Welt gab. Menschenlegenden, fremd und erschreckend. Andererseits hatte er in kurzer Zeit so vieles erlebt, was er nicht für denkbar gehalten hatte, dass vielleicht auch Skelettkrieger möglich waren. Unas Panik hatte ihn nicht unberührt gelassen. Sein Schmerz und seine Schwäche raubten ihm zudem die Ruhe.
Er wusste, dass er dringend Körper- und Seelenkraft benötigte . Magie, von der er nun nur noch so wenig hatte und die er sich allein von Una beschaffen konnte. Von Una, die ihm nicht mehr vertraute. Die er erst wiederfinden musste. Sie in Gefahr zu wissen, beunruhigte ihn mehr, als es sollte. Vielleicht war er Verantwortung nicht gewöhnt. Doch er konnte sich dem nicht entziehen – nicht der Pflicht und nicht der Frau. Er musste sie einfach schützen, diese nervige,
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