Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
sanft, milde und weise, war eben nur das: ein Mythos. Sie konnten auch ganz anders sein, nämlich grausam, gemein und tödlich.
Kanura lockerte seinen Griff, atmete tief durch, rang sichtbar nach Fassung. Fast keuchte er. Seine Hände umfassten immer noch ihre Arme, doch sie quetschten ihr nicht mehr das Blut ab.
Es war ganz still. Die Sekunden verstrichen.
Plötzlich zog er sie an sich und legte die Arme um sie.
» Es tut mir leid, Una. Es tut mir leid. Wirklich. «
Sie wehrte sich nicht. Am besten war es, gar nicht zu reagieren. Die Bandbreite seiner Emotionen war zu groß und zu unvorhersehbar. Auf die eine oder andere Art konnte er sie immer umbringen, ob mit bloßen Händen oder mit der Magie, die er durch sie wirkte. Und dennoch war er der Einzige, der ihr in diesen schrecklichen Gefilden zur Seite stand. Was immer sonst hier war, schien noch gefährlicher zu sein. Das war nicht wirklich beruhigend, und Una unterdrückte mühsam einen frustrierten Aufschrei und die klischeehafte Anwandlung, ihm mit beiden Fäusten gegen die ebenso breite wie verstaubte Brust zu trommeln. Einen Augenblick später ließ er sie los.
» Schauen wir lieber nach, was hinter den anderen Türen ist. « Er drehte sich abrupt um und riss mit mehr Kraft als nötig an dem nächsten Riegel, der unter seinem zornigen Ansturm sofort zerbrach. Er zerrte die Tür ein Stück auf und blickte in den Raum. Sein großer Körper versperrte ihr die Sicht.
» Mehr Tote? « , fragte Una.
Er nickte, wandte sich der nächsten Tür zu. Wenig später ließ seine Miene erahnen, dass sich ihm hier der gleiche Anblick bot. Er eilte zur nächsten Tür.
» Warum? « , fragte Una verzweifelt. » Warum nur? Warum bringt man so viele Menschen um? «
» Macht kann sehr verführerisch sein « , gab er zur Antwort. » Oder ist das in deiner Welt anders? «
» Nein. Und ehe du fragst: Auch bei uns gibt es Menschen, die in Kerkern umgebracht werden, weil irgendwelche Idioten sich besser, stärker oder mehr im Recht fühlen. Es ist bei uns so falsch wie bei euch. «
Kanura war bei der letzten Seitentür angelangt. Sein Gesicht war grimmig. Er zerrte mit solcher Wut an der Tür, dass sie komplett aus den Angeln gerissen wurde. Diesmal war Una rasch neben ihn getreten. In einer Ecke der Zelle lagen zwei Skelette. Sie waren nur teilweise zerfallen, und man konnte sehen, dass sie sich im Tod in den Armen gehalten hatten. Ihre Köpfe lehnten aneinander. Sie waren gemeinsam gestorben.
Das Bild brannte sich in ihre Seele. Sie merkte kaum, dass ihr plötzlich Tränen über die Wangen liefen. Sie wusste nicht, wer hier gestorben war. Doch sie konnte das Grauen nachvollziehen, als hätte es hinter der Tür nur darauf gewartet, sich eines neuen menschlichen Gefäßes zu bemächtigen. Kaltes Entsetzen packte sie.
Kanura wandte sich zu ihr um. Sein schönes Gesicht war ausdruckslos wie eine Porzellanmaske. Sie konnte nicht einmal ansatzweise erfassen, was er dachte oder fühlte.
» Dort drüben ist noch eine Tür. Da muss es rausgehen « , sagte er nur und deutete auf eine große Doppeltür am anderen Ende des lang gestreckten Raumes. » Hier können wir nichts tun. Nichts – außer zurückgehen. «
Zurück wollte Una auf keinen Fall. Doch was würde sie als Nächstes erwarten?
Mit wenigen Schritten hatten sie die letzte Tür erreicht. Fein gearbeitete Stuckgirlanden, zarte Blüten und Blätter, die so gar nicht zu einem Gefängnis passten, wanden sich um deren Rahmen. Hatte man die Künstler, die hier gelebt hatten, gezwungen, ihren Kerker auszugestalten? Oder hatten sie es getan, um irgendetwas Schönes um sich zu haben, während sie auf den Tod warteten?
Oder womöglich war dies nur ein Hinweis darauf, dass es durch diese Tür in den Bereich ging, in dem die Herren dieser Burg das Schöne konsumierten wie eine Droge?
Etwas unschlüssig standen sie beide vor der Tür, als erwarteten sie, dass das Grauen, das hinter den anderen Türen gelauert hatte, nun hinter dieser noch eine Steigerung erfahren würde. Hier waren alle tot. Was mochte draußen lauern?
Una fiel etwas ein. » Vielleicht gibt es hier irgendwo eine Waffe « , meinte sie unsicher. Sie sah sich um. So etwas wie ein Schnitzmesser oder einen scharfkantigen Meißel mochten Künstler doch gehabt haben. Aber alles war zerfallen. Was immer hinter der Tür auf sie wartete, sie würden ihm unbewaffnet begegnen.
Kanura nickte ihr zu. » Gehen wir. «
In diesem Moment hörten sie Geräusche. Schritte
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