Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
kannte: dass er sie umbringen konnte, indem er sie einfach nur ansah und zuhörte. Und danach würde es ihm besser gehen.
Sie setzte sich an den Rand der Quelle und rührte unglücklich mit der Hand im Wasser. Es war eisig kalt. Sie hätte einen solchen Brunnen eher im Freien erwartet als in einem Raum im Erdgeschoss. Aber dies war keine Menschenburg, auch wenn Una zusehends zu dem Schluss kam, dass sie von Menschen errichtet worden war.
Die Planung und die architektonischen Eigenheiten waren jedoch auf die Herren der Burg ausgerichtet. Das waren Einhörner gewesen. Oder Kentauren. Oder Kelpies – wie hatte Kanura sie noch genannt? Uruschge. Irgendetwas Großes jedenfalls. Für Menschen waren hier alle Größenverhältnisse falsch – außer in den Kriechgängen, und die waren unbequem und im wahrsten Sinne des Wortes erniedrigend. Durch die mussten Menschen gekrochen sein. Vielleicht mochten es die Herren der Burg, wenn Menschen krochen.
Una betrachtete das schimmernde Muster auf dem gefliesten Steinboden, das durch die schmalen, hohen Fenster mit den Butzenscheiben fiel. Die unterschiedlichen Grüntöne bezauberten sie. Der Brunnensaal hatte auf seine wuchtige Art eine eigene Ästhetik, auch wenn sie ziemlich protzig und kraftmeiernd war. Una war sich bewusst, dass ihre Geschmacksvorstellungen nicht für die Bewertung so gänzlich fremder Kultur taugten. Sie interpretierte Dinge hinein, die hier nicht zutreffen konnten. Oder doch?
Sie ließ ihren Blick über den leeren Raum gleiten und fühlte sich wieder unendlich allein. Ihr ganzes bisheriges Leben war irrelevant geworden, als wäre nichts von dem, das sie gelernt, gemocht oder geglaubt hatte, noch wichtig. Wie konnte man Pläne machen in einer Welt, die man nicht kannte und die voller Tod war? Manchmal meinte sie, aus diesem Albtraum aufwachen zu müssen. Doch er ging einfach weiter und weiter.
Sie konnte auch nicht dauernd in irgendeiner Ecke hocken und heulen, weil sie alles verloren hatte – bis auf ihr Leben. Aber auch das würde sie vielleicht noch verlieren, auf irgendeine abstruse Art, die sie sich nicht einmal vorstellen konnte.
Allein der Gedanke, dass es in dieser fremden Welt niemanden gab, der sie vermissen würde, war schrecklich. Sie würde einfach verschwinden, irgendwann ein verstaubtes Skelett sein, das niemanden interessierte.
Eine Welle traf ihre Hand. Sie fuhr herum und starrte in den Brunnen. War er dunkler geworden? Es schien, als würde ein dunkler Fleck in der Mitte immer größer. Etwas tauchte auf. Was konnte das sein? Una stand auf und wich einen kleinen Schritt zurück, wollte sehen, was da kam, wäre aber gleichzeitig gerne fortgerannt, denn was konnte schon Gutes aus der Tiefe eines Brunnens kommen? Sicher kein Froschkönig. Außerdem hatte sie schon einen Prinzen, und den wollte sie zurzeit ungefähr so sehr, wie jene Märchenprinzessin den Frosch gewollt hatte.
Der Brunnen lief über, als wäre er auf einmal zu voll. Wasser klatschte auf den Boden und breitete sich aus. Der helle Boden färbte sich dunkel. Una wich weiter zurück. Ihr Herz raste. Nahte hier ein Feind? Oder tat sich eine Möglichkeit auf, zurück nach Hause zu kommen? Würde sie die möglicherweise einzige Chance, in ihre Welt zurückzukehren, verpassen, wenn sie jetzt davonlief?
Ihr Instinkt sagte ihr, dass Wegrennen die bessere Alternative war. Doch was wusste ihr Instinkt schon von dieser Welt? Warum sollte Was-immer-da-kam schlimmer sein als alles andere, das sie bedrohte? Mit Kanura hatte man reden können. Warum nicht auch mit anderen Wesen?
Das tiefe Blau wandelte sich in blasige, weiße Gischt. Sie starrte unverwandt auf das brodelnde Wasser. Als es in die Höhe explodierte, wirkte es auf einmal, als hätte der Brunnen nun doch in der Mitte eine Statue. Doch diese Statue bewegte sich.
Das Pferd sprang, als könnte es sich von der Wasseroberfläche abstoßen. Es war viel zu schnell und viel zu nah. Tropfen sprühten, als es die wilde Mähne schüttelte. Das Wasser traf Una und löste ihre Erstarrung wie eine kalte Dusche.
Nun bewegten sich ihre Füße von allein, als hätte ihr vernachlässigter Instinkt die Herrschaft darüber übernommen. Zur Tür. Schnell.
Doch dort war der Ausgang versperrt. Wo eben noch eine Öffnung gewesen war, stand nun ein Kentaur. Es war nicht der Graue, auch nicht der Fuchs, auf dem Una geritten war. Doch sie erkannte ihn als einen aus der Herde, die sie und Kanura gefangen genommen hatte. Una wirbelte herum. Sie
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