Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
Seele.
Warum hatte der Schrat die Augen nicht mehr geöffnet? Er war nicht gleich tot gewesen. Irgendetwas musste er noch wahrgenommen haben. Doch SIE wusste nichts davon, nur dass er die Bardin nicht gefunden hatte.
SIE würde neue Sendboten ausschicken, jedoch war IHRE Aufmerksamkeit zweigeteilt. Von Süden her näherten sich die Fragenden. Sie mussten eine Antwort erhalten. Eine Antwort, die sie als endgültig begriffen. Der Tod war einigermaßen endgültig. SIE hatte nichts gegen Wiedergeburt, solange der Tod ihr vorgelagert war.
Kapitel 63
Der Schamane war langsam. Vielleicht war er auch ängstlich, obgleich Una nicht wusste, warum er mehr Angst haben sollte als sie. Sie fand, sie hatte weitaus mehr Grund dazu. Er war der Kerl hier. Und sie war die verschleppte Gefangene. Sie hatte instinktiv reagiert. Aus absolut bodenloser Panik. Ohne groß nachzudenken.
Jedenfalls hielt sie jetzt das Messer in der Hand. Sie hatte es ihm einfach weggenommen. Es war nicht einmal schwierig gewesen, ein Reflex.
Er hatte es andächtig mit den Fingerspitzen gehalten, wie einen kultischen Gegenstand, und sie hatte es ihm einfach aus den Händen gerissen. Politisch war das nicht korrekt. Man hatte fremde Glaubensrichtungen zu respektieren, auch wenn sie einem seltsam vorkamen. Und das taten sie im Grunde ja immer. Wenn man kein Hindu war, kam einem ein Typ, der sich spitze Gegenstände durch die Backen zog, vermutlich genauso seltsam vor wie einem Nicht-Katholiken ein Priester, der im goldbestickten Abendkleid einen weißen Keks in einem Goldrahmen um die städtische Grünfläche trug. Einem zerlumpten Höhlenbewohner zuzusehen, wie er andächtig sein Messer vorbereitete, hätte Una freilich bestenfalls in einer Fernsehsendung über fremde Kulturen nett gefunden.
Im schummrigen Licht des Konferenzsacks war der Gesichtsausdruck des Schamanen schwierig zu erkennen. Dass er mit einer solchen Reaktion ihrerseits nicht gerechnet hatte, war allerdings klar. Vermutlich hatte ihm schon lange keiner mehr widersprochen – oder widerschwiegen, oder was es war, was diese stillen Menschen taten, wenn sie anderer Meinung waren. Vielleicht waren sie nie anderer Meinung?
Der Gedanke allein, dass alle immer die gleiche Meinung haben mussten, erfüllte Una mit Grauen. Anpassung – darüber konnte man reden, aber Gehorsam hatte man ihr nicht als Tugend beigebracht.
Die Hand des Mannes zuckte in ihre Richtung, doch sie zog das Messer näher zu sich.
» Nein « , sagte sie. » Ich kann es nicht leiden, wenn man mich mit dem Messer bedroht. Ich habe die Faxen ziemlich dicke. Ich will jetzt einfach ein paar Dinge wissen. Was machen diese Meister? Wann wachen sie denn auf? «
Der Schamane und der Erdworg sahen sie verstört an.
» Niemand weiß das « , erklärte Yurli. » Jetzt … später. Niemand weiß das. «
» Wie lange ruhen sie denn schon? « Es musste sich doch herausfinden lassen, wann mit dem Aufwachen der Mardoryx zu rechnen war.
Die beiden blickten sich unsicher an.
» Seit neun … « , flüsterte der Schamane und verstummte. Der Erdworg fuhr sich mit einer irritierend menschlichen Geste nervös durch sein geschmücktes Haupthaar und linste einen Augenblick lang besorgt nach oben. Sein Mundwinkel zuckte. Eine Weile sagte keiner etwas.
» Neun Stunden? « , fragte Una, bekam jedoch keine Antwort.
» Neun Tagen? « , fragte sie weiter. Vielleicht war jetzt Aufwachzeit für die Meister, und die Sklaven – sie korrigierte sich automatisch –, das Servicepersonal würde gleich schweigend davonstürmen und durch die Gänge krabbeln wie emsige Ameisen, um ihre Aufgaben bestmöglich zu erfüllen.
Wieder erhielt sie keine Antwort.
» Neun Wochen? « Sie ließ nicht locker. Kanura hatte nicht den Eindruck gemacht, als würde er neun Wochen am Stück schlafen, doch was wusste Una schon von den Gepflogenheiten der Einhörner? Vielleicht hielten sie ja Winterschlaf. Oder Sommerschlaf. Oder Schönheitsschlaf.
» Nun sagt schon! « , drängte sie ungeduldig.
» Neun Generationen « , flüsterte der Schamane.
Una starrte ihn entsetzt an, konnte es nicht fassen. Ganz langsam schoben sich die Worte in ihr Verständnis und manifestierten sich dort zu einem Sinn, den sie nicht begreifen konnte.
» Menschliche Generationen? «
» Scht! «
Sie war wohl etwas laut geworden.
» Sie ruhen seit neun Generationen? Sind nicht aufgewacht? Schlafen einfach hier so vor sich hin? Tag für Tag, Jahr für Jahr? « , fragte sie weiter.
Der
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