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Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Titel: Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ju Honisch
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viele Generationen. Sie waren zur durchnummerierten Herde geworden, weil man sie dazu gemacht hatte. Doch es waren Menschen. Alles in Una wehrte sich dagegen, genau so zu werden wie sie.
    » Ich bin keine Nummer! « , zischte sie ihn an. » Ich heiße Una Merkordt. Ich bin keine Dienerin. Ich bin keine Sklavin. Niemand hat das Recht, mich zu besitzen. Ich werde verdammt noch mal nicht schweigen. Und ihr solltet das auch nicht. «
    Sie sah das Messer in seiner Hand. Wenn die Angst vor der Obrigkeit zu groß war, verriet man sich untereinander: ein Stützpfeiler der » Teile-und-herrsche-Maxime« autoritärer Systeme. Das hätte sie mal im Geschichtsunterricht lernen sollen. Das hätte ihr jetzt mehr genützt als ein paar blöde Jahreszahlen aus einer anderen Welt. Nun bekam sie eine Praxisübung in Living History, die sie leider nicht überleben würde.

Kapitel 62
    Das Horn mochte helfen. Es mochte auch stören. SIE wusste nicht, was genau es bewirken würde, und das war irritierend. Wie ein Kribbeln im Sein. SIE wusste nur, was SIE war, und IHRE Unangreifbarkeit lag im Status quo begründet: Alles war, wie es war.
    Nicht, dass SIE nichts ändern wollte. SIE wollte viele Dinge ändern, war mitten dabei, Änderungen zu spinnen wie Netze, Wege zu eröffnen wie Gänge durch den Fels. Doch während SIE die Dinge änderte, durfte die Grundlage IHRER Macht sich nicht ändern. Man konnte nicht den Boden wegziehen, während man auf ihm stand.
    Alles entwickelte sich prächtig. Der Krieg, der so lange schon im Fels erstarrt war, würde doch noch zum Sieg führen. Einen Sieg hatten sie immer gewollt. Von Anfang an, während aller Kämpfe, während das Gebirge wuchs und während der Planung, diese Grenze nicht als endgültigen Bannkreis zu akzeptieren, koste es, was es wolle, und dauere es, so lange es dauern musste.
    » Steter Tropfen höhlt den Stein « , summte SIE IHRE Litanei vor sich hin. » Steter Stein höhlt den Tropfen. Stete Höhle tropft den Stein. «
    Kanura. Der Name allein klang schon nach einem Ärgernis. In seiner ungestümen Spontaneität war der Junghengst längst nicht so berechenbar wie die anderen seines Volkes, die immer brav und gleich agierten.
    Sein Überleben war zu keinem Zeitpunkt sinnvoll gewesen. Oder vorgesehen. Er sollte längst tot sein. Doch der Uruschge hatte versagt.
    Also hatte SIE ihn einfangen lassen, damit er den Ablauf der Dinge nicht störte. SIE begann zu verstehen, dass SIE ihn einfach hätte ziehen lassen sollen. Das Land nördlich der Trutzberge war groß, erstreckte sich weit über Ebenen und Hügel bis zu den nördlichen Schneehängen und dem eisigen Meer. Vielleicht hätte er da nicht gestört, wäre mit seinem Menschenmädchen einfach irgendwohin gegangen, um nicht mehr in Erscheinung zu treten. Jetzt hatte seine Anwesenheit Dinge ausgelöst, die wie Muster im Sand einer Quelle stetig den Grund veränderten und neue Strudel auslösten, die wiederum neue Muster formten.
    Jene Nymphe hätte nie entkommen dürfen. Ein Fehler mit so vielen Folgen. Dabei war SIE sich sicher, dass SIE keine Fehler machte, denn SIE hatte keine in IHREM Plan vorgesehen.
    Es galt, sehr genau darüber nachzudenken, was mit der Bardin geschehen sollte. War es gut, sie hier zu haben? War es besser, sie zu töten? Der Uruschge hatte versagt – und war tot. Der Kentaur hatte etwas Unerwartetes getan – und war tot.
    Das Unerwartete war stets ärgerlich. Es riss Löcher in das Gespinst von Erwartung und Plan, schuf Möglichkeiten, die eben noch keine gewesen waren. Es missachtete die zielgerichtete Ordnung, die SIE vorgegeben hatte.
    Was tun mit dem lästigen Mädchen?
    SIE glitt in IHRE Harfenhöhle, kroch über Wände und Decke, setzte IHRE Finger schließlich auf die Saiten und sang:
    » Sing für mich,
    find ich dich,
    bin nicht taub,
    blind auch nicht.
    Find dich mit Augen,
    die der Nacht taugen,
    werde dich schauen,
    die Seele dir kauen.
    Kind, für mich,
    sing für mich,
    bring mir dich
    innerlich.
    Sing eine Note
    nach meinem Gebote,
    nur eine,
    nur meine,
    sonst keine.
    Danach ist mein Wille:
    auf ewig schweig stille. «
    SIE spürte, wie IHRE Sendboten beim Klang IHRES Liedes erzitterten. Einen hatte SIE verloren. SIE wusste nicht genau, wie. Er hatte die streitsüchtigen Kentauren erblickt und danach seine Augen, die IHRE Augen waren, geschlossen. Augen, so sagten die Menschen, waren der Schlüssel zur Seele, doch IHRE Knechte hatten keine Seele. Wer nichts tat als zu gehorchen, brauchte keine

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