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Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Titel: Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ju Honisch
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Fletschte es jetzt seine kleinen, spitzen Zähne? Oder sollte das ein Lächeln sein?
    Das Wesen kam näher heran. Aus ihrer Perspektive konnte Una kaum noch etwas erkennen. Dann sah sie eine dieser unglaublichen Hände. Ganz nah war sie. Der Handrücken war noch etwas behaart, doch zu den Fingerknochen hin sah man nur noch helle Haut. Diese allerdings wirkte lederdick. Lautlos schoben sich lange, gebogene Krallen aus dem Nagelbett. Eine dieser Krallen näherte sich Unas Gesicht. Man konnte sehen, wie scharf sie war. Sie strich Una über die Wange.
    Der Knebel fiel zerschnitten herunter.
    » Sch! « , flüsterte das Wesen, und Una unterdrückte mit aller Kraft einen hysterischen Schrei.
    » Wa… « , flüsterte Una, doch die Hand fuhr ihr über den Mund, und die Menschen traten alle einen Schritt näher und hielten sich die Hände über die Lippen. Hatten sie alle ein Schweigegelübde abgelegt? Gehörten sie zu einem unterirdischen Trappistenorden?
    Es wirkte fast so, denn nun gestikulierte der Schamane wild, während das kleine Wesen mit seinen scharfen Krallen Unas Fesseln zerschnitt.
    » Menschen still « , flüsterte der Kleine. » Du bist Mensch. «
    Die Stimme klang wie jene des winzigen Unbekannten, der sie am Abend zuvor in die Höhle gelockt hatte. Kanura hatte ihn Erdworg genannt. So sahen die also aus. Jetzt hatte er sie tatsächlich im Dunkeln unter der Erde, wo er sie schon das erste Mal hingebracht hatte, um sie dann dort am Abgrund hängen zu lassen, bevor Kanura ihr nachgekommen war.
    Nun trugen die Menschen etwas herbei, hielten es mit einer Ehrfurcht, die einen an einen Priester mit Monstranz an Fronleichnam erinnerte. Erst konnte sie nicht sehen, was es war. Dann kam es näher. Es war eine dicke, große Wolldecke. Sie wirkte etwas filzig, und es waren Muster eingewoben, die an Runen erinnerten.
    Wie ein Teppich wurde die Decke jetzt auf dem Boden ausgerollt, und man sah, dass sie rund und nicht eckig war. An der Außenkante lief ein Wulst entlang, aus dem an zwei gegenüberliegenden Seiten Stricke hervorlugten. Der Schamane und der Erdworg traten in die Mitte und winkten Una zu sich.
    Die rappelte sich langsam auf die Knie. Offenbar war das eine Art Kultgegenstand, eine mystische Schmusedecke. Una hatte überhaupt keine Lust, sich darauf zu begeben, wusste nicht, ob das der Ort war, auf dem man sie opfern wollte, oder ob die Decke sich einem fliegenden Teppich gleich in die Lüfte erheben würde, um mit ihnen davonzufliegen. Überraschen würde sie keins von beidem. Sie starrte die Decke an und erwartete, dass sie – getragen von der darin lebenden Milbenkultur – immerhin allein zu wandern anfangen würde. Doch sie lag einfach nur da. Und die beiden Wesen winkten nun etwas heftiger.
    Una gab ihren inneren Widerstand auf und kroch auf die Decke. Kaum hatte sie die Mitte erreicht, sah sie, wie einige der Menschen sich bückten und an den Stricken zogen, um die Decke wie einen Stoffbeutel um sie herum zu schließen. Sofort wollte Una wieder nach draußen, doch der Schamane hielt sie am Arm fest, und schon schloss sich der Riesenbeutel um sie wie ein Spinnenkokon. Es wurde dunkel.
    Dann flammte ein kleines Licht auf. Una starrte darauf. Es war ein grüner Stein, der ein sanftes Leuchten von sich gab.
    » Hier reden Menschen « , flüsterte der Erdworg.
    Una verstand. Die Deckenumhüllung war also eine Art Konferenzzimmer mit Schallisolierung. Vermutlich der am schlechtesten riechende Besprechungsraum in mindestens zwei Welten.
    » Hier? « , flüsterte sie und fragte sich, ob sie gleich einen Allergieschub bekommen würde.
    » Nur hier « , flüsterte der Erdworg.
    » Warum? « , fragte Una.
    » Sie sollen uns nicht hören. « Die Stimme des Schamanen klang rau, so als würde er sie selten benutzen.
    » Wer soll uns nicht hören? «
    » Meister. «
    Waren das die Mardoryx, oder meinte er die geheimnisvolle SIE , von der Kanura berichtet hatte?
    » Was für Meister? Und wo? «
    » Meister ruhen. Nicht wecken « , erklärte der Erdworg.
    » Du meinst, sie sind tot? «
    » Nicht tot. Ruhen. «
    Una versuchte, irgendeinen Sinn in seinen Worten zu erkennen. Es gelang ihr wieder einmal nicht.
    » Wer seid ihr? « , fragte sie schließlich.
    Der Schamane beugte grüßend sein Haupt und legte seine Hände mit gekreuzten Fingern auf seine Brust.
    » Adreiundfünfzigzwölf « , sagte der Erdworg und deutete auf den Schamanen.
    Una starrte von einem zum anderen. » Das ist kein Name, das ist eine Nummer! « ,

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