Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
berauschend, bei allem Kummer und aller Sorge, die sie beide im Griff hielt. Sie waren sich so vertraut, als würden sie sich schon eine Ewigkeit kennen.
» Ich verstehe es nicht « , sagte Irene dann. » Ich verstehe gar nichts mehr. «
Esteron zog sie noch enger an sich.
» Deine Welt ist so schwierig « , sagte er. » Und Teile davon waren dir offenbar neu. «
» Ich habe nie damit gerechnet, Märchengestalten und alten Göttern zu begegnen. Was will Macha – und ihr Held? «
Die Wände im Cottage waren dünn. Irene konnte sehr deutlich hören, wie der Held nebenan zumindest eine seiner Funktionen mit außerordentlichem Durchhaltevermögen erfüllte. Die beiden Gäste hatten ihren Spaß und keine Hemmungen, dies laut in die Nacht zu verkünden. Durch Irenes Sinn schoss der Siebzigerjahre-Slogan » Make love, not war « . Dann wandelte sich der Satz in » Make love to war « .
Irene schauderte.
» Götter « , murmelte sie nach einer Weile. » Das meine ich nicht sexistisch. Göttinnen. Egal. Weißt du, man wächst in seinem Kulturkreis auf und bekommt den Unterschied zwischen Fantasie und Wirklichkeit beigebracht. Unsere gesamte Zivilisation stützt sich darauf, dass wir glauben, diesen Unterschied zu kennen, und jene schief ansehen, die mit der Unterscheidung Schwierigkeiten haben. Dabei haben die meisten Leute ihre Spiritualität durchorganisiert und institutionalisiert, damit das, woran wir glauben, greifbarer erscheint, Systeme mit Regeln und Strafen und Steuern. Ich bin eher die Ausnahme. Ich glaube an die Möglichkeiten, dass alles vielleicht doch anders ist. Doch meine Überzeugung – was immer sie ist oder gewesen sein mag – ist nicht stark genug, mit dem umzugehen, was gerade jetzt Wirklichkeit ist. «
Nebenan erreichte Machas Lustgestöhne eine neue Phonzahl. Esteron schlang einen Schenkel um Irene. Sie kuschelte sich an seinen warmen Körper.
» Aber « , fuhr Irene fort und versuchte, den Lärm zu ignorieren, dessen Rhythmus sich keiner entziehen konnte. Schon spürte auch Irene ihre eigene Erregung wachsen. » Das ist alles viel zu philosophisch. Wir müssen praktisch denken. « Das schien mit einem Mal nicht mehr so einfach. » Was will diese Frau? Also nicht gerade jetzt, aber überhaupt? «
» Ich weiß es nicht « , sagte Esteron, während seine Hände ihren Körper erforschten. » Vielleicht sucht sie einen Ausweg aus dieser Welt, in die sie nicht mehr passt. Vielleicht bietet die Situation ihr eine Chance, die sie nicht versäumen will. «
» Es kann nicht sein, dass ihr unsere Welt zu friedlich ist. Hier herrscht dauernd Krieg. Irgendwo auf dieser großen Welt bringen sich immer Menschen um und finden es richtig und gerechtfertigt. Oder vielleicht auch nur opportun. Hier ist es jetzt gerade mal friedlich … «
» Zu friedlich für Macha. «
» … aber in Afrika, im Nahen Osten … ach, fast überall gibt es Kriege. «
» Aber Macha gehört hierher. Und auch wenn sie das Schlachtengetümmel mag, so ist sie doch zuallererst die Göttin der Pferde. «
» Aber über euch gebietet sie nicht? «
» Wir sind keine Pferde. Wir sehen nur so aus. Und Macha würde nur allzu gern über uns gebieten, wenn sie könnte. Sie liebt den Kampf um die Macht. « Er drehte sie auf den Rücken, blickte ihr in die Augen. Das Licht der altmodischen Nachttischlampe war nicht besonders hell, und die riesigen dunkelblauen Augen über ihr brachten ihre Seele zum Schmelzen.
Dann fanden seine Lippen die ihren, zärtlich, dann ein wenig fordernder. Irene spürte seinen kräftigen Körper an ihrem. Er hatte sich vor ihr ausgezogen mit einer eleganten Selbstverständlichkeit, die keine Scham kannte. Vermutlich wusste er nicht einmal mit dem Begriff etwas anzufangen, und das hatte fast etwas Paradiesisches. Langsam reagierte Irene auf die Schönheit seines Körpers, auf die Wärme seiner Haut, auf die Berührung seiner kräftigen und doch so sensiblen Hände.
Ihre Hände fuhren durch seine langen, schwarzen Haare. Sie waren so dicht und so dick wie die eines Klischee-Filmindianers. Es war so unglaublich wie alles andere, dass dieser Mann hier bei ihr lag, in seiner ganzen Pracht. Anders konnte man es nicht nennen.
Ihre Angst vor dem, was vor ihnen lag, war nicht fort, doch sie war beiseitegeschoben durch seine ungeheuer starke Präsenz. Er gehörte ihr nicht, würde ihr nie gehören. Vielleicht hatten sie nur noch diese eine Nacht. Vielleicht würde danach alles in Chaos und Tod enden. Doch diese Nacht
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