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Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Titel: Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ju Honisch
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hatte sie keinen Blick mehr für die ruhenden Meister. Ruhten sie überhaupt noch?
    Ihre Hände griffen in etwas Feuchtes. Es war das Blut des Schrates, das sich in den Vertiefungen des dunklen Steines sammelte. Warum war der noch nicht tot? Wenn man so viel Blut verlor, musste man doch leer sein!
    Ein Zischen, Kreischen und Wummern drang an ihr Ohr. Es war kein Geräusch, das sie zuordnen konnte. Hörte sich so ein Erdbeben an ? Als schrappten die Teile der Welt aneinander wie Autos bei einem Auffahrunfall? Oder war das nur ihr Körper, der ihr sagte, dass sie nun doch getroffen worden war und starb?
    Warum sie, warum nicht der Schrat? Lärm dröhnte in ihren Ohren und mit ihm von Ferne ein Rhythmus wie der einer Slip-Jig, wie ihre Mutter sie so gerne spielte. Sie erhob ihre Stimme fast automatisch zu der kreiselnden Weise und sang:
    » Finde den Tod, Schrat,
    der uns gejagt hat:
    Finde den Schrat, Tod.
    Dir ich den Schrat bot,
    in dem Bestreben
    zu überleben
    singe ich leise
    dem Tod eine Weise. «
    Gleichzeitig hörte sie ein fremdes Echo über sich beinahe gegenläufig zurückhallen:
    » Komm zu mir, Bardin,
    lass mich nicht warten!
    Sing in den Tod dich.
    Tu das jetzt für mich.
    In dem Bestreben
    zu überleben
    singe ich leise
    dem Tod deine Weise. «
    Sie wusste nicht, woher die Worte in ihren Sinn gekommen waren. Fremd. Das war nicht sie. So war sie nicht, sie hatte noch nie jemandem den Tod gewünscht, so gemein und intensiv. Eine schneidende Kälte durchdrang sie wie der Vorbote von etwas Ungeheurem, das seine Krallen nach ihr ausstreckte, um sie zu holen.
    » Kanura! « , rief sie panisch. Sie umklammerte ihn immer noch, hielt seinen schweren Körper in ihren Armen. Dann spürte sie immer weniger, fühlte das Schratblut nicht mehr auf ihren Händen, den Stein nicht mehr unter ihrem Körper. Sterne drehten sich um sie. Aus Punkten wurden Linien. Sie tanzten um sie herum. Una begriff nichts, versuchte nicht einmal mehr, zu erfassen, was geschah, krallte sich nur an ihrem Einhorn fest.
    Nicht allein sein. Und ihn nicht allein lassen. Ihre Gedanken überspülten sie mit Erinnerungen an Szenen und Wortfetzen. Ihr war übel, ihre Seele fühlte sich schwer an, ihr Kopf leicht und leer. Sie schien zu schweben, war nur noch Teil von etwas Größerem, das ihren Gesang fasste und verstärkte wie eine PA -Anlage. Das Echo ihrer Stimme schwang immer noch um sie herum und mit ihm ein zweites und ein drittes, Harfe und Geige, die sich um Vorherrschaft stritten. Der Klang trug sie in die Höhe.
    Von weit oben sah sie hinunter auf den Saal, auf Hunderte von Leibern, durch die ein kaum wahrnehmbares Beben ging; auf graues Blut, das den Boden färbte, auf ein wütendes Gesicht, dessen fragwürdige Menschlichkeit an einem Pferdeleib zerbrach.
    Nahtoderlebnis, dachte sie. So wurde es beschrieben: Man sah auf sich selbst hinunter. Und dann starb man – oder nicht.
    Doch sie lag nicht da unten. Der Kentaur blickte wütend nach oben. Er hielt die Hornklinge in der Hand, streckte sie hoch über sich in ihre Richtung. Wollte er damit zaubern? Bekam Una sie zu fassen?
    Sie streckte ihre linke Hand nach unten, ohne Kanura loszulassen, doch sie griff ins Leere, und die Sterne nahmen überhand, umkreisten sie und zogen sie ins Dunkel, in die absolute schwarze Finsternis, aufwärts und erbarmungslos weiter.
    Nichts mehr existierte. Nicht einmal die Zeit, die verging und nicht mehr messbar war. Nichts mehr war.
    Etwas doch. Es strich ihr übers Gesicht. Die Leere in ihrem Kopf füllte sich. Nicht mit Information, nicht mit Erklärungen. Nur diese eine Wahrnehmung, nichts darum herum: etwas strich ihr übers Gesicht.
    Offenbar schon eine ganze Weile.
    » Una! « , sagte die schönste Baritonstimme der Welt. » Una. Meine Bardin! «
    Sie genoss die Berührung. Vor dieser Hand hatte sie einmal Angst gehabt. Sie hatte immer noch Angst, öffnete die Augen, musste schnell überprüfen, dass es auch seine Hand war und nicht ein neues Grauen, dass sie narrte und betrog. Sie lagen dicht aneinandergeschmiegt. Der Boden war hart, aber glasglatt. Es war gerade hell genug, dass man etwas erkennen konnte.
    » Du lebst « , flüsterte sie und blickte in dieses unglaublich schöne Gesicht. Es war voller blauer Flecken, doch sie klangen bereits ab. Sein helles Haar fiel wie ein Platinwasserfall über dunklen Boden.
    » Ich lebe « , gab er genauso leise zurück. » Dank deiner Musik lebe ich. Du hast für mich gesungen, Una. Deine Seele hat für mich

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