Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
verwob sich dort zu einem faserigen Stamm, der säulenförmig aus der Plattform hervorwuchs. Er strebte aufwärts als gebündelte Macht, um dann in der Schwärze, die über Una und Kanura schwebte, zu verschwinden. Irgendwo jenseits der Dunkelheit würde sich die Krone von diesem Baum der Macht befinden, würde sich weit verästeln und voranwachsen und Früchte der fürchterlichsten Art tragen.
Una war genau dort. In der Mitte von all dem Schrecklichen.
Esteron hätte ihr das erklären können, doch er war fort. Seine Abwesenheit schmerzte wie ein Gegenpol zur Angst um ihre Tochter, als hätte man ihr erst die eine, dann die andere Hälfte ihrer Seele aus dem Körper gerissen. Jetzt endlich konnte Irene das Stück, das sie spielte, wechseln, setzte die kleine Blechflöte ab und begann zu singen. Die Melodie sollte die Verbindung schaffen, denn Irene wollte mehr sehen. Sie musste mehr in Erfahrung bringen, auch wenn sie sich davor fürchtete. So war es einfacher, sich auf ein uraltes Liebeslied zu konzentrieren und dabei an Esteron zu denken. » Tá mé ’mo shuí « , hieß das gälische Lied . » Ich sitze hier. «
» Kein Schlaf, seit der Mond zuletzt am Nachthimmel stand.
Das Feuer nur schürte ich, ließ die Kohlen erglühen.
Alles ruht, während ich nur noch Trauer und Tränen fand,
und ich höre nie mehr des Morgens die Hähne noch krähen.
Deine Lippen, dein Blick haben mir die Seele gefangen.
In deinen funkelnden Augen fand ich kurz Glück.
Ich sehne mich nach dir, doch kann ich nicht zu dir gelangen,
denn die Berge der Welten sind hoch zwischen uns gerückt.
Der Weise weiß um der Liebe tödliches Leiden.
Ich glaubte es nicht, bis mein Herz deinem Zauber erlag.
Die Banshee selbst sagt, es ließe sich nicht mehr vermeiden,
denn lodernde Seelen sind gebannt bis zum Jüngsten Tag. «
Die Tyrrfholyn hatten schon recht, wenn sie glaubten, Lieder beinhalteten das, was sich an Wissen stets wiederholte.
Kapitel 81
Una wickelte einen Müsliriegel aus und gab ihn Kanura. Er schnupperte etwas misstrauisch daran und biss dann entschlossen hinein. Dabei setzte er sich neben sie.
» Das schmeckt gut! «
Beide kauten sie still die süßen Zerealien. Langsam legten sich Unas wirre Gedanken ab wie Schnee in einer Glaskugel, die man zu lange geschüttelt hatte. Sie nahm den letzten Bissen, zog die Knie an und legte dann ihr Gesicht darauf, in dem Versuch, sich zur Ruhe zu zwingen. In ihr flatterte es.
» Das ergibt alles keinen Sinn « , sagte sie. » Wir sitzen hier und essen, und dabei ist so viel geschehen, das ich nicht begreife. Wie kommen wir hier weg? Wer hat mit mir gesungen? Ich habe eine Stimme gehört. Das war nicht meine. Und die Worte waren auch nicht meine. Es ging um Tod. Werden wir hier sterben? «
» Im Moment haben wir Essen und Wasser und sogar ein wenig Licht. Wir müssen hier raus – ja, aber vielleicht nicht sofort. Irgendwas hier ist mir vertraut. Doch ich weiß nicht, was. Wir sollten uns ausruhen. Wir waren beide nah … an der Grenze. «
Sie fragte nicht, welche Grenze er meinte.
» Gibt es einen Ausgang? « , wollte sie stattdessen wissen.
» Er ist versperrt. Sieht aus wie ein Gespinst aus verschmolzenen Glasfäden. Vielleicht können wir das freibekommen, aber zuerst finde ich, wir sollten noch einmal alles durchdenken, was uns geschehen ist, jede Information austauschen. Damit wir so viel wie möglich wissen, bevor wir die nächste Entscheidung treffen. Jede Kleinigkeit mag wichtig sein. «
» Sind wir denn hier sicher? «
Er zuckte nur mit den Schultern. » Wir sind hier. Und können im Moment auch nicht fort. Alles andere wird sich weisen. «
Er wusste also genauso wenig wie sie. Sie wussten nicht, wie sie hierhergekommen waren und ob das wirklich eine Verbesserung war. In einer geschlossenen Höhle mitten in einem Berg: Alles konnte geschehen. Feinde konnten kommen. Sie selbst konnten ebenso unvermittelt, wie sie hier aufgetaucht waren, wieder von hier fortgebracht werden. Oder sie konnten einfach hier verhungern. Una schauderte, und Kanura nahm sie in den Arm. Er war warm, und sie kuschelte sich an ihn.
» Erzähl mir von den Mardoryx « , sagte er. » Und von den Menschen. Und von allem, was du erlebt hast! Und iss noch was. Du wirst es brauchen. «
Sie wusste, was er meinte: Sie würde weiter seine Energiequelle sein. Sie teilten sich einen weiteren Müsliriegel, und er beschnüffelte den Krug, der neben dem Lager stand.
» Wasser « , sagte er. » Ich denke,
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