Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
einer Felsspalte. Und schön. Und begabt. Die beste Bardin des nördlichen Reiches.
Doch dann war SIE das gebündelte Wissen und Wollen jener geworden, die den Krieg immer noch gewinnen wollten. SIE war die Möglichkeit in den Bergen, das Zentrum mitten in der scheinbaren Unüberwindlichkeit. SIE war das Begehr jener, die stets mehr begehrten. Erst ganz Talunys und danach, was immer möglich war.
Dass SIE all die Kraft für sich nehmen würde und denen, die SIE geschaffen hatten, nichts davon abgab, hatten jene nicht vorausgesehen. Dabei hätte jeder Einzelne von ihnen in der gleichen Situation das Nämliche getan. Macht, die man besaß, behielt man.
So hatten sie geschlafen, die vielen, die SIE zur Vielen machten.
Doch nun waren sie erwacht.
Zur Unzeit.
Kapitel 87
Eryennis spürte, wie sich etwas verschob. Was genau, konnte sie nicht sagen, doch es betraf das ganze gigantische Gebirge. Das blaue Flattern um sie herum kam zum Stillstand.
Eben hatte sie noch die Machtlosigkeit der Geschöpfe gespürt. Nun streckte eines der Wesen seinen weißen Arm nach ihr aus. Etwas zaghaft trat Eryennis auf die Nymphe zu, hielt ihr die schwarze Hand entgegen. Ihre Finger berührten sich.
Wie ein Schock fuhr es durch Eryennis. Es war, als ertränke sie im Trockenen. Ein Wispern schwebte durch den Raum, brach sich dann in Flüsterklängen. Immer noch berührte die Hand der Nymphe Eryennis. Die Kühle labte ihre brennende Seele, konnte sie jedoch nicht löschen. Das war gut, begriff sie, denn andernfalls wäre sie tot. Es war das Feuer, das sie am Leben hielt.
» Hilf ihm! « , flüsterte die Luft um sie herum. Das Bild von Kanura stieg vor ihrem geistigen Auge auf. Kanura, den sie gemocht hatte, der sie nicht gewollt hatte – jedenfalls nicht genug, um eine echte Entscheidung zu treffen. Kanura, den sie verraten hatte.
Schon hatte das Seidenwesen sie losgelassen und deutete nach unten. Spiegelglatt lag der Weiher da.
» Was? « , rief Eryennis. » Wie komme ich hier raus? «
Niemand beantwortete ihre Frage. Eine seltsame Stille umfing sie. Die blauen Steine lagen zu Eryennis’ Füßen. Sie verstand nicht genau, was es damit auf sich hatte, spürte jedoch deren ungeheure Präsenz.
» Nimm! « , flüsterte die Nymphe.
Eryennis hob einen Stein auf. Er wog schwer in ihrer Hand, war wie eine Last, die sich auf ihr Gewissen legte.
» Hilf ihm! « , flüsterte es wieder. Dann schien das Interesse an ihr wieder zu erlöschen.
Kanura. Sie wusste nicht, ob sie ihm noch böse war. Ob sie ihm überhaupt je böse gewesen war oder sie sich das nur als Rechtfertigung zurechtgelegt hatte.
Sie warf den flatternden Kreaturen einen letzten Blick zu, drehte sich um und kletterte hoch zum Spalt in der Höhlenwand, durch den sie gekommen war. Ihr Herz pulsierte in Feuerwellen. Sie spürte, dass sie nur wenige Minuten hatte, bevor die Aufmerksamkeit ihrer Gastgeberin sie wieder erfassen würde. Sie machte sich auf weitere Schrate gefasst. Einen hatte sie besiegt. Mehr als einen gleichzeitig würde sie nicht bezwingen können.
Sie rannte, und die Hitze ihres Seins pochte schmerzhaft durch ihren Körper, während der Stein in ihrer Hand ebenso schmerzhaft eisig war. Doch loslassen wollte sie ihn auch nicht.
Sie spürte die Intensität, mit der SIE an der Wirklichkeit baute. Gleich würde SIE fertig sein. Dann würde SIE sich mit Eryennis beschäftigen. Und mit Kanura, der, als Eryennis ihn das letzte Mal wahrgenommen hatte, so gut wie tot gewesen war.
Und dennoch war er nah. Mit einem Mal wusste sie, dass er da war, konnte seine erotische Präsenz fühlen. Hengst, dachte sie. Dummer Hengst.
Doch wenn er in Schwierigkeiten steckte, musste sie ihm helfen. Schließlich war sie an seinen Schwierigkeiten mit schuld.
Sie erreichte den Gang zu ihrem ehemaligen Gefängnis schneller als gedacht. Die klebrigen Weben, die sie durchglüht hatte, waren zu glasartigem Stein geworden, geschmolzen und wieder erstarrt. Sie spürte Kanura auf der anderen Seite, wusste nicht, wie er dahingekommen war. Es war nicht wichtig. Er lebte.
» Kanura! « , rief sie erst leise, dann etwas lauter. » Kanura! «
Eine Weile geschah nichts. Dann hörte sie seine Stimme.
» Eryennis? « Er klang erstaunt.
Wie geht es dir?, wollte sie fragen. Wie bist du hierhergekommen?
» Komm da raus! « , sagte sie stattdessen.
» Eryennis? Bist du das? « Jetzt klang er misstrauisch, als wäre er sich nicht sicher, ob die Stimme wirklich ihr gehörte.
» Wir müssen hier
Weitere Kostenlose Bücher