Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
weg « , sagte sie nur.
» Wie? « , fragte er. » Der Eingang ist verschlossen. Es sieht aus wie Glas, aber es ist Stein. Ein Gespinst an Streben, kreuz und quer. «
» Es war ein Netz « , erklärte sie. » SIE hat es gewoben. Es ist geschmolzen, als ich es durchschritten habe. SIE gestaltet dieses Gebirge, singt und sengt die Tunnel durch den Fels und schließt sie auch wieder, webt sie zu. Gerade so wie es IHR gefällt. «
» Wer ist SIE ? « , fragte Kanura.
» Der Wille der Mardoryx. Wir müssen uns beeilen. Lass uns unsere Hörner in Einklang bringen. Mit gemeinsamer Macht … «
» Ich kann nicht « , sagte er und klang verzweifelt. » Man hat mir mein Horn genommen. Ich bin … kein Einhorn mehr. «
Das war es also. Kaltes Begreifen legte sich über Eryennis’ Gemüt. Das hatte sie also gefühlt, als sie seinen nahen Tod gespürt und die Information weitergegeben hatte.
Wie hatte er sich nur das Horn nehmen lassen können? Es war so typisch Kanura. Unachtsam bis in den Tod.
» Kannst du gar nichts wirken? « , fragte sie.
» Nur wenig. «
Eine weitere Stimme erklang. Eine Frauenstimme. Kanura war nicht allein. Auch das war irgendwie typisch. Einen Augenblick lang glaubte Eryennis Sex und Leidenschaft riechen zu können. Es sollte ihr nichts ausmachen, aber sie spürte Ärger in sich aufsteigen.
» Soll ich für euch singen? « , fragte die Frau. Eine Menschenstimme. Worauf hatte sich Kanura nur eingelassen? Mit einer Menschenfrau. Einer, die sang. Nun, für irgendetwas war sie dann immerhin gut.
» Nein « , sagte Kanura.
» Doch « , sagte Eryennis. » Wenn’s hilft. Sie soll singen. Dazu ist sie da. Jetzt. Los! «
» Aber … «
» Mach einmal was richtig, Kanura! Einmal! Ihr werdet da drin sterben, wenn du jetzt zauderst. «
Eine wunderschöne Frauenstimme begann zu singen. Eryennis kannte das Lied nicht, doch es labte ihre Seele, kühlte sie wie Salbe auf einer Wunde. Sie schob alles an Ballast aus ihren Gedanken, die Enttäuschung über Kanura, ihren Verrat an Kanura, den Verlust von Kanura und zuletzt auch noch die Eifersucht, auf die sie, die ihn verraten hatte, nicht einmal ein Recht hatte.
Aber eine Menschenfrau? Ausgerechnet eine Menschenfrau?
Sie nahm ihre Hornklinge in die Hand, konzentrierte sich, spürte die schwachen Fragmente von Kanuras schwindender magischer Kraft, machte sich daran fest. Sie zog und bog und riss und zerrte an den obsidianglatten Steinweben, die den Ausgang versperrten. Doch Stein war Stein und blieb Stein.
Kanura und sein Menschenweibchen würden in der Höhle umkommen. Und sie war schuld. Fürstin hatte sie sein wollen. Verbranntes Fleisch war sie nun.
Sie fasste ihr schwarzes Horn fester, konzentrierte sich, trieb ihre Gedanken tief in die Struktur des seltsamen Steins. Sie merkte, wie sich an ihrem Kopf die schwarzen Schuppen öffneten. Sie konnte den Rauch sehen, der daraus hervortrat. Sie hatte das Feuer in sich. Doch was würde geschehen, wenn sie es los ließ?
Was würde eher schmelzen? Der harte Stein, Kanura und die Menschenfrau – oder sie selbst?
Kapitel 88
Der erste Mardoryx sprang auf und fiel sofort wieder um. Seine Beine trugen ihn nicht. Die Menschen johlten und drangen weiter vor, erfasst von einem Blutrausch, der alle Dämme des Schweigens und der ewigen Vorsicht weggespült hatte. Sie hieben auf die darniederliegenden Einhornleiber ein, zerschmetterten Knochen, traten nach Hörnern, als wollten sie diese brechen, stachen mit allem zu, was ihnen in die Hände kam.
Nun stand ein weiteres Einhorn. Dann ein drittes. Auf einmal waren es viele, die da standen, etwas wackelig, ziemlich irritiert, dicht an dicht. Ihre großen Augen rollten in Panik und Wut. Sie wussten nicht, was hier geschah. Vielleicht war ihnen nicht einmal ganz klar, wie lange sie geruht hatten. Erste Wutschreie der Einhörner mengten sich unter das Kampfgebrüll der Menschen.
In die Verwirrung mischten sich Unverständnis und Entsetzen. Sinne, die so lange nichts wahrgenommen hatten, als das Bewirken eines diffusen Ziels, brauchten eine Weile, um zu sich zu kommen. Aber bald begannen die großen Wesen reflexartig, die Angriffe der zerlumpten Schar abzuwehren. Noch war diese Abwehr eher zufällig. Doch Sekunde um Sekunde wurde sie koordinierter.
Der Schamane schrie vom Eingang her: » Lauft! Rennt! Flieht, solange ihr noch könnt! «
Es war längst zu spät. Ein gemeinsamer Schrei ertönte, als ein erstes Horn sich in den Brustkorb eines Menschen bohrte, um auf
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