Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
der anderen Seite blutspritzend hervorzubrechen. Einen Augenblick lang hing der zappelnde Menschen an dem Horn, wurde emporgehoben und durch den Raum geschleudert.
Schreie, triumphierend der eine, entsetzt der andere, gellten einige Augenblicke lang und verklangen dann in absolut grausamer Stille. Das Schweigen war fast perfekt. Nur Schritte waren plötzlich zu hören. Adreiundfünfzigzwölf hatte auf dem Absatz kehrtgemacht und rannte. Mit ihm rannten die ersten Menschen, die sich noch in der Nähe der hohen Flügeltüren befanden.
Mit einem Knall flogen diese Türen zu, ohne dass irgendwer sie berührt hatte. Ein Gefühl wie ein nahender Gewittersturm legte sich über den großen Raum. Nun drängten die Menschen zur Tür, traten dabei über den Staub der toten Mardoryx, schoben sich und schubsten sich an den Leibern der Feinde vorbei. Wie beiläufig flog einmal hier, einmal da ein durchbohrter Menschenkörper meterweit zur Seite oder knallte an die verzierten Wände, um dort blutige Schlieren zu hinterlassen.
Doch das Furcht einflößendste waren nicht das Blut und die Toten, die Seite an Seite mit den erlegten Einhörnern den Boden des Saales rot färbten. Wahrhaft beängstigend war die Macht, die sich aufbaute. Menschen mochten sie nicht anwenden können, aber – und das hatten sie selbst nie geahnt – sie konnten sie fühlen.
Schon änderten sie ihre Richtung, wandten sich zur Mitte, trotteten willenlos auf die dunkelfleckige Plattform zu. Ihre Gesichter zeigten, dass sie sich ihres eigenen Unvermögens bewusst waren, dem Befehl, der sie lenkte, zu entgehen. Sie dachten an Flucht, an Gegenwehr, doch sie konnten ihr Handeln nicht ändern und erfuhren nun, was sie über Generationen mit warnender Geste und geflüstertem Wort gelernt hatten. Sie waren unfrei.
Ein Summen erklang, einstimmig zuerst, dann zogen sich die Klänge auseinander, Terzen, Quarten, Quinten ertönten, während ein Sekundinterval als tiefer Bordun die Gesänge rhythmisch unterlegte wie ein Herzschlag. Keine Worte schmückten das Kunstwerk, das die Macht der Mardoryx wieder aufrichtete, als wäre sie ein Kristall, das gen Himmel wuchs.
Und was für ein Himmel! Während sich die Menschen mit hängenden Händen, denen die Waffen längst entglitten waren, auf und um die steinerne Plattform versammelten, stak darüber immer noch eine Schwärze wie ein Loch im Sein.
Nun hatten sich die Einhörner wieder im Kreis aufgestellt. So mussten sie vor langer Zeit einmal gestanden haben, bevor sie in einen Schlaf versunken waren, der mehrere Hundert Jahre gedauert hatte. Sie waren nicht mehr vollzählig, ihre Gefallenen lagen zwischen ihnen, und Blut floss noch immer über den Boden. Manch einer erblickte Freunde und Gefährten, getötet, bevor sie überhaupt erwacht waren. Neue wütende Entschlossenheit ließ die Gesänge der Einhörner dissonanter werden. Vielleicht hatten noch nicht alle verstanden, was in den langen Jahren geschehen war. Doch was sie verstanden, war, dass die Sklaven sich gegen sie aufgelehnt und sogar einige von ihnen getötet hatten.
Dieses Problem war gleich zu lösen. Es bedurfte keiner langen Analyse dessen, was dazu geführt hatte. Es musste nur beendet werden. Gehorsam war ein unbedingtes Muss.
Lauter und lauter wurde der Gesang, während die Mardoryx zu sich fanden und sich in die Ressourcen von Talunys hakten, als wäre ihr gemeinsamer Wille eine Hand mit riesigen Krallen.
Doch da war nicht allzu viel Energie. Der eine oder andere begann sich zu erinnern, dass schon vorher die Energie für so viel Macht gleichzeitig nicht gereicht hatte und sie eben aus diesem Grunde die Musik der Menschen als Zusatzressource genutzt hatten.
Ein plötzliches Zischen ertönte. Es kam von weit oben. Wie ein vertikaler Sturm bahnte es sich an, ließ die Luft über der Plattform erzittern und brach schließlich aus dem dunkelsten Dunkel des Nichts hervor.
An einem seidenen Tau seilte sich etwas ab, etwas Ungeheuerliches, Widersinniges. Facettenaugen glitzerten in einem Gesicht, das blass und menschlich war. Der menschliche Torso passte so gar nicht zu den vielen dornigen Hakenbeinen, die an einem Seil festhielten, das ein gedrungenes Horn auf dem Kopf des Wesens kontinuierlich spann.
Hätten die Menschen noch schreien können, sie hätten es getan. Doch sie blickten in gewohnter Stummheit auf das Unheil, das direkt auf sie herunterkam.
Auch die Mardoryx schrien nicht. Sie sahen fasziniert auf das, was da kam, begriffen es als ihre
Weitere Kostenlose Bücher