Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
unterdrückte zischend einen Schmerzenslaut.
Una atmete tief ein. Einen Augenblick lang lenkte sein Oberkörper sie komplett von seinen Verwundungen ab. Dieser Fremde sah aus wie ein Model, das veranschaulichen sollte, wie man als Mann eigentlich gebaut sein sollte. Theoretisch. Und mit viel wohlwollender Fantasie. Mit einem Ruck hob Una das Kinn und schloss den Mund; beides war ihr irgendwie entglitten.
Kapitel 16
Noch nie in seinem Leben war Hra-Esteron so gedemütigt worden. In Menschengestalt saßen Perjanu und er auf dem Rücken zweier ihrer Sippengefährten und ließen sich nach Kerr-Dywwen zurücktragen. Das mochten weder die Reiter noch die Träger.
Der Weg war weit, und Schmach und Schmerzen taten ihr Übriges, um jede Sekunde der Reise in die Länge zu ziehen. Esteron biss die Zähne aufeinander, dass es wehtat. Er wusste, es ging nicht anders. Sie mussten schnell sein. Und weder Perjanu noch er selbst waren im Moment in der Lage, besonders rasch irgendwohin zu galoppieren.
Sie konnten sich glücklich schätzen, überhaupt noch am Leben zu sein. Wären seine Leute nicht gekommen, so wären der Fürst und der Erste Weise des Reiches nun tot.
Stattdessen hatten schließlich die Uruschge verloren. Zwei waren tot am Sannen liegen geblieben, und der Rest hatte sich nach kurzem Kampf in die flachen Fluten geflüchtet und war gegen jede Logik in der Tiefe verschwunden. Das Wasser hatte gebrodelt und sich rot gefärbt. Doch sie waren fort.
Eine Weile hatten die Einhörner schweigend an der Brücke gestanden. Perjanu schaffte es nicht, alleine auf die Beine zu kommen. Esteron zwang sich dazu. Und wenn es das Letzte war, was er tat, er würde nicht im aufgewühlten, blutigen Matsch liegen bleiben. Nicht vor seiner Sippe. Nicht vor Enygme, deren Angst um Kanura und ihn greifbar war.
Mit einem Blick gebot er ihr, ihn nicht zu fragen, wie es ihm ginge. Sie verstand und versagte sich die Frage. Stattdessen sagte sie: » Kanura. Habt ihr ihn gefunden? «
Esterons Beine zitterten vor Anstrengung. Er nickte nur. Wie sollte er Enygme beibringen, dass Kanura wahrscheinlich verloren war?
Schon fragte sie weiter: » Wo ist er? Was ist mit Kanura? «
Ein Fürst der Tyrrfholyn durfte nichts fürchten, schon gar nicht die Wahrheit, galt diese den Einhörnern doch als schön. Auch wenn sie grausam war.
» Die Uruschge haben ihn unter Wasser gezogen « , sagte er schlicht. Er sagte nicht: Er ist tot. Er sagte auch nicht: Ich weiß nicht, was mit ihm ist. Tatsächlich wusste er es nicht. Doch der Kampf hatte zu lange gedauert, und Kanura war nicht mehr hochgekommen.
Enygme sprang direkt mit den Vorderhufen in den Sannen. Tu das nicht, wollte er ihr sagen. Die Uruschge waren nicht weit. Sie konnten jeden Moment wieder auftauchen und ein weiteres Opfer mit sich in die Tiefe reißen.
Doch er sagte nichts. Sie hatte ihn gerettet, hatte die Truppe angeführt, die gekämpft und gesiegt hatte, während er verloren hätte. Es stand ihm nicht zu, sie zu maßregeln – oder auch ihr nur gute Ratschläge zu geben. Sie hatte die Führung der Sippe übernommen. Ihr mochte das noch nicht klar sein, ihm allerdings schon. Wer folgte schon einem Fürsten, der seine Kämpfe verlor?
Er atmete zischend ein und wieder aus.
» Kanura? « , rief Enygme, rührte am Ufer mit dem Huf im Wasser, als könnte sie ihn so zu Tage fördern, doch das Flüsschen lief nur munter an ihren Fesseln vorbei. Schon war kaum noch Blut im Wasser zu sehen. Und es war ohnehin schwer zu unterscheiden, wem es gehört hatte, den Uruschge? Ihm und Perjanu? Den kämpfenden Einhörnern, die auch so manchen Biss und Tritt hatten einstecken müssen – oder Kanura, der in der Tiefe versunken war?
Esteron wollte nicht daran denken, dass die widerlichen Kreaturen seinen Sohn fressen würden, den aufmüpfigen, zornigen, temperamentvollen, starken und freien Sohn, der irgendwann ein so guter Fürst geworden wäre, wenn er sich erst genügend ausgetobt hätte. Vom Schmerz überwältigt, schloss er die Augen, um sie gleich wieder aufzureißen. Es war sinnlos, vor der Wahrheit die Augen zu verschließen.
» Kanura « , flüsterte Enygme jetzt. » Wir müssen ihn suchen! «
» Wo? « , fragte Perjanu erschöpft.
Enygme antwortete nicht. Eine ganze Weile schwieg die Gruppe. Dann lösten sich Tränen aus den großen, braunen Augen der Fürstin.
» Das glaube ich nicht « , sagte sie. » Ich glaube das einfach nicht. Das kann nicht sein. Ich würde doch spüren, wenn …
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