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Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Titel: Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ju Honisch
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starke Hände. Aber das war jetzt völlig nebensächlich, schalt sie sich sofort.
    Er berührte ihre Wange, und sie musste ihrem Kinn Einhalt gebieten, nicht wieder nach unten zu klappen.
    » Du bist ein Mensch « , sagte er ganz sanft, als müsste er ihr etwas schonend beibringen.
    Sie war einen Augenblick lang sprachlos. War der Typ verrückt?
    » Äh, ja. Was auch sonst? «
    Er schüttelte lächelnd den Kopf. » Ich glaube, dein Verband wird nicht weit reichen. – Wie heißt du? «
    » Una. Una Merkordt. Und du? «
    » Ich bin Kanura von den Ra-Yurich. «
    War das ein Adelstitel? Oder eine Clan-Bezeichnung? Teilten sich die Traveller in Clans ein? Oder die Hippies? Überhaupt klang der Name Kanura nicht irisch, sondern eher japanisch. Doch er sah so gar nicht japanisch aus.
    Irritiert blickte sie von einer Wunde zur nächsten. Wo anfangen? Am schlimmsten sah tatsächlich die am Hals aus.
    » Vielleicht da? « , fragte sie schüchtern und hielt den Verband vor seinen Hals. Wieder blickte er etwas argwöhnisch. Dann nickte er.
    » Wenn du meinst. « Er klang höflich, als glaubte er keine Sekunde daran, sie könne ihm wirklich helfen. Womit er ja auch recht hatte. Sie zögerte.
    Einen Moment sahen sie sich direkt in die Augen. Una lief dunkelrot an. Man sollte nicht allzu direkt in diese Augen sehen. Sie hatten eine seltsame Tiefe, eine erschütternde Ernsthaftigkeit. Sein Blick strahlte eine Vertrauenswürdigkeit aus, gegen das sich Unas anerzogenes urbanes Misstrauen sofort zu wehren begann. Mit diesem Blick konnte der Mann vermutlich alte Witwen dazu bringen, ihm ihre Häuser zu übereignen und noch Danke zu sagen, wenn er den Schmuck ebenfalls mitnahm.
    » Ich glaube fast « , sagte er jetzt, » wenn du mir hilfst, mich selbst zu heilen, wäre das sinnvoller. Nicht, dass ich deine Versuche nicht zu würdigen wüsste, aber die Menschen … « Er hielt kurz inne und wiederholte dann: » Du bist ein Mensch. «
    O. k., er war definitiv verrückt. Und es klang wie » du bist nur ein Mensch « , irgendwie abwertend. Was glaubte der Typ eigentlich, wer er war? Superman?
    » Wie? « , fragte sie deshalb nur kurz.
    » Wie was? «
    » Wie soll ich dir helfen? « Sie packte das Verbandsröllchen etwas genervt wieder in das grüne Kästchen und stopfte es in eine der Satteltaschen zurück. Vermutlich hatte er nur Angst, dass das Antiseptikum brannte.
    Er sah sie nachdenklich an, fuhr sich mit der Zunge über seine relativ breiten, ebenmäßigen Zähne.
    » Kannst du singen? « , fragte er.
    Singen? Natürlich konnte sie singen. Wenn sie etwas konnte, war es singen. Chor, solo, was auch immer. Außerdem konnte sie Flöte spielen und Harfe. Ihre Flöte hatte sie sogar dabei, auseinandergebaut im Flötenkasten im Rucksack. Harfen eigneten sich zur Mitnahme auf Fahrradtouren eher weniger.
    Singen. Ihre Mutter hätte ihr jetzt bestimmt gesagt, dass es in primitiven Kulturen Heilgesänge gab, deren Wirkung man nicht unterschätzen dürfte. Aber zum einen waren sie hier nicht in Papua-Neuguinea, und zum anderen war sie kein Medizinmann … keine Medizinfrau. Medizinperson?
    Sie sah ihn sarkastisch an.
    » Du meinst, ich soll dir was vorsingen? Und dann ist alles wieder gut? Irgendwelche Wünsche? Carrickfergus vielleicht? Oder As I Roved Out? «
    Mit irischen Liedern war sie aufgewachsen, ihre Eltern hatten wenig anderes gehört. Die konnte sie aus dem Effeff. Vermutlich konnte sie mehr als der durchschnittliche Ire.
    » Oder wäre dir etwas aus den Charts lieber? « , fuhr sie fort.
    » Charts? « , fragte er etwas unsicher. » Carrick…? «
    » Na – was soll ich singen? « Das Ganze war abstrus. Eine blöde Idee. Vermutlich verarschte er sie gerade. Sie sollte einfach gehen und diesen Irren mit seinem Stickwestlein und seinem Wollgürtelchen allein lassen.
    Und seinen Verwundungen. Und seinem Blut.
    » Sing das Schönste, was dir einfällt. Sing es mit Andacht und Seele. «
    Sie starrte ihn an. Er meinte das tatsächlich ernst. Blutete auf den Boden, war klitschnass, sodass sich seine seltsame Kleidung allzu deutlich an seinem – wirklich beeindruckenden – Körper abzeichnete, und wollte, dass sie ihm ein Liedlein sang. Nun, Waschbrettbäuche wurden überschätzt, aber der Tag würde vermutlich nicht mehr normaler werden. Also konnte sie ihm auch etwas vorsingen.
    Sie kam sich dämlich vor. Das Schönste, was ihr einfiel, sollte sie singen. Im Moment fiel ihr wenig ein. Was war schon » das Schönste « ? Sie entschloss

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