Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
nur und griff nach den Satteltaschen und der Kamera. In ihrer Hast entglitt diese ihren Händen, und um sie vor dem Aufschlag zu schützen, ließ Una die Satteltaschen wieder fallen und fing in einer beinahe akrobatischen Drehung den Fotoapparat.
Nichts wie weg! Wieder griff sie nach den Satteltaschen. In diesem Augenblick hörte sie das Stöhnen und erstarrte. Die Gestalt, die, zwischen ihr und dem Weg über den Hügel lag, bewegte sich mühsam. Ein glitzernder Gegenstand fiel ihr aus der Hand und kullerte über den Boden. Eine Hand tastete unkoordiniert danach.
Eine Männerhand, dachte Una. Dies war ein Mann, keine » Gestalt « . Ein Kerl. Wahrscheinlich brauchte er Hilfe. Vielleicht sollte sie aber lieber machen, dass sie fortkam. Hier war es zu einsam. Und dieser Bursche flößte ihr weniger Mitleid ein als Unbehagen. Irgendwas war hier gewaltig falsch.
Natürlich musste man Menschen in Not helfen. Aber man musste auch auf sich aufpassen. Es war eine ungute Situation. Una wusste, dass sie sich ewig Vorwürfe machen würde, wenn sie einen Verletzten einfach so seinem Schicksal überließ. Und er war verletzt. Er blutete offensichtlich, der Boden um ihn herum war fleckig.
Sie hatte ein kleines Erste-Hilfe-Set in den Satteltaschen. Kurz zögerte sie noch. Sollte er tatsächlich gefährlich sein, würde ihr hier niemand helfen. Hier gab es nichts und niemanden, und ihre Schreie würden nur die Bäume hören und vielleicht das Pferd, das so plötzlich verschwunden war.
Sie wich zurück, bis ihre Ferse an eines der Votivbilder stieß, die am Rand der Grotte aufgereiht waren. Es fiel mit einem gläsernen Klirren um, und in diesem Moment fuhr der Kopf des Mannes hoch.
Sein Hals war blutverschmiert, nasse Haarsträhnen verklebten die Hälfte seines Gesichts. Dennoch konnte Una sehen, dass er ungewöhnlich gut aussah. Sehr gut. Und sehr ungewöhnlich. Seine braunen Augen waren ein bisschen zu groß für sein Gesicht, und seine dunklen Wimpern sahen beinahe künstlich aus, so lang waren sie.
Aber egal – wenn er sie jetzt angriff, spielte es keine Rolle mehr, ob er gut aussah oder nicht. Vielleicht kam sie noch an ihm vorbei, wenn sie jetzt losrannte. Vielleicht konnte sie nach ihm treten, solange er noch am Boden lag.
Sie starrte ihn an, unfähig sich zu bewegen.
» Wo bin ich? « , murmelte er, hustete und spuckte Wasser, wischte sich Blut vom Hals, betrachtete seine Hand mit staunendem Entsetzen. Seine Stimme klang eigentümlich, sehr voll, fast schon sonor. Una war noch immer wie erstarrt. Seine großen Augen saugten sich an ihrem Gesicht fest, während er sie abwägend anblickte. Er hatte eine Frage gestellt. Wie sollte sie die beantworten? Und überhaupt war es eine dämliche Frage. Wie konnte er nicht wissen, wo er war? Schwerfällig richtete er sich auf, stützte sich auf die Ellenbogen und blickte sie immer noch erwartungsvoll, aber auch misstrauisch an. Er wirkte, als könnte er sich nicht entscheiden, ob sie Freund oder Feind war, und sie wollte nicht herausfinden, was geschah, sollte er zur zweiten Meinung tendieren. Er war sehr groß und muskulös. Um so gebaut zu sein, musste ein Fitnessstudio gut an ihm verdient haben.
Oder er arbeitete einfach nur hart körperlich. Oder er war ein Schlägertyp.
» Wo bin ich? « , wiederholte er, und diesmal klang seine Stimme argwöhnisch.
» St. Caolán’s Holy Well, die heilige Quelle des heiligen Caolán. In der Grafschaft Clare. «
Er starrte sie verständnislos an.
» Wo? «
» Clare. Westirland. « Hübsch, aber begriffsstutzig, dachte Una bei sich.
Er sank ein wenig in sich zusammen, senkte seine unglaublichen Wimpern und starrte auf den Boden. Dann versuchte er, diesen Boden mit den Fingern zu greifen, als sollte er ihn wiedererkennen, wenn er ihn nur fest genug berührte.
» Talunys! « , zischte er, und es klang wie ein Fluch. » Genauer gesagt: nicht Talunys, oder? Dies ist doch nicht Talunys hier? « Jetzt klang er aufgeregt.
» Ich weiß nicht, wo Talunys ist « , sagte Una. » Ich kann auf dem Navi nachschauen, wenn das wichtig ist. «
Wieder erntete sie nur einen völlig verständnislosen Blick. Wusste er etwa nicht, was ein Navi war? Und sollte sie ihm wirklich erklären, was es mit dem Gerät auf sich hatte? Würde ihn das vielleicht dazu verleiten, sie zu überfallen und auszurauben?
Tatsächlich streckte er den Arm in ihre Richtung, doch nur um den kleinen, blauen Stein zu ergreifen, der ihm vorhin entglitten war. Er zog ihn an sich
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