Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
und steckte ihn langsam in eine seiner Hosentaschen.
» Ssenyissa « , flüsterte er und drückte fast andächtig mit der flachen Hand gegen die Tasche.
Mühsam richtete er sich auf die Knie auf. Nun konnte Una ihn genauer betrachten. Er trug ein weitärmeliges Leinenhemd wie ein Pirat, weite Stoffhosen und hohe Stiefel. Um seine Taille war ein viel zu breiter Gürtel geschlungen, der aus bunten Wollsträhnen kunstvoll geflochten war. Fast erwartete Una ein Krummschwert darin, doch Gott sei Dank schien er so etwas nicht dabeizuhaben. Dafür waren in sein blondes Haar mehrere bunte Bänder eingeflochten.
Ein Hippie. Wo immer der her war, er war vierzig Jahre zu spät dran mit seinem Styling. Ihre Mutter würde allerdings auf ihn abfahren. Und dann noch die langen Haare! Sie mussten ihm mindestens bis zur Taille reichen. Bestimmt war er ein Traveller. So zog sich doch heutzutage kein normaler Mensch mehr an.
Nicht, dass Traveller nicht normal waren, meldete sich ihre anerzogene politische Korrektheit. Das hatte sie damit nicht sagen wollen. Sie schob ihr Zivilisationsgewissen beiseite – unerheblich in der jetzigen Situation.
Erst jetzt stellte sie fest, dass seine nasse Kleidung an manchen Stellen zerrissen und ebenfalls blutverschmiert war. Er musste gekämpft haben. Nur wo? Und mit wem?
» Du bist verletzt « , platzte sie heraus und schalt sich sofort dafür, dass sie ihn geduzt hatte. Im selben Augenblick wurde ihr bewusst, dass es Duzen im Englischen nicht gab und dass sie überhaupt nicht wusste, in welcher Sprache sie ihn eigentlich gerade anredete. Die Erkenntnis ließ ihr die Haare im Nacken hochstehen. Sie erstarrte vor Unsicherheit.
Er nickte und sah an sich herunter.
» Ja « , sagte er.
Das war schon Englisch, oder? Una war sich nicht sicher. Sie begriff nicht, wie sie sich dessen nicht sicher sein konnte. Ihre Knie begannen zu zittern. Sie konnte gut Englisch. Aber zwischen Englisch und ihrer Muttersprache hatte sie bislang immer noch unterscheiden können.
» Aber immerhin lebe ich noch « , fuhr er fort. Dann sah er sich gehetzt um. » Sind hier Uruschge in der Nähe? «
» U… was? «
» Ungeheuer, die wie Pferde aussehen. Oder wie Menschen « , erklärte er etwas ungeduldig.
Sie sah ihn missbilligend an.
» Also Kreaturen, die wie Pferde aussehen, gibt es. Und Kreaturen, die wie Menschen aussehen, sind auch nicht weit weg. « Tatsächlich nur drei Schritte entfernt von ihm. Schließlich war sie ja ein Mensch und sah auch so aus. » Aber sollten wir vielleicht … « Sie stockte. » Also, ich habe einen kleinen Verbandskasten dabei. So ein Mini-Ding. Vielleicht kann ich ja helfen? «
Argwöhnisch blickte er sie an. Sie starrte genauso argwöhnisch zurück. Warum sie ihm nicht traute, war ihr klar. Aber warum er sie mit genauso großem Misstrauen beäugte, konnte sie nicht verstehen. So wie er aussah, war er auch verwundet noch stärker als sie.
Sie hätte längst abhauen sollen. Doch jetzt hatte sie sich verpflichtet, und vielleicht war es auch richtig so. Ethisch war es sicher korrekt. Blöd vielleicht, aber korrekt. Ihre Mutter wäre stolz auf sie. Ihr Vater daheim in Deutschland würde einen Schreikrampf angesichts ihrer Unvorsichtigkeit bekommen.
Zögernd ging sie auf ihn zu. Wenn sie ihm helfen wollte, musste sie ihm nahe sein. Sie musste ihn berühren. Nichts davon wollte sie. Obwohl … von der Gefahr einmal abgesehen, war er schon ein ziemliches Prachtexemplar von Mann. So etwas fasste man unter anderen Umständen wohl schon auch gerne mal an.
Nur natürlich nicht jetzt.
Sie kniete sich ihm gegenüber hin. Sie merkte, dass ihr ein wenig die Hände zitterten, als sie die Kamera in den Satteltaschen verstaute und das kleine, grüne Kästchen mit dem weißen Kreuz rausnahm. Das kleine Notfall-Kit war eher dazu angetan, Kratzer zu versorgen als richtige Wunden.
» Seltsame Tasche « , sagte er.
» Ist eine Satteltasche. «
Er sah sie an, als hätte sie etwas ausgesprochen Unanständiges gesagt, und bog den Kopf ein wenig zurück. Seine Augen zuckten, und seine nach oben geschwungenen Augenbrauen zogen sich noch höher. Sie waren erstaunlich dunkel im Vergleich zu seinem blonden Haar.
» Fürs Fahrrad « , ergänzte sie. An seiner Wange zuckte ein Muskel. Offenbar verstand er sie nicht. Kannten Hippies keine Fahrräder?
Einen Moment lang senkte er den Blick. Dann zerrte er die Schnürung an seinem Hemd auf und zog es sich zusammen mit der Weste über den Kopf. Er
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