Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
Jahrzehnte vor sich zu haben. Die Tyrrfholyn waren langlebig. Und wenn sie schließlich in den Klangnebel gingen, so wussten sie, dass sie wiedergeboren werden würden – als Tyrrfholyn, wenn sie nicht allzu viel falsch gemacht hatten.
Er warf sich auf den Hinterbeinen herum, zum Fluss hin, und biss nach dem Feind, der gerade von hinten angriff. Aus dem Augenwinkel sah er seinen Sohn in die Fluten stürzen und versinken. Der Fürst schrie, konnte sich aber nicht losmachen, um Kanura beizustehen.
Doch dem Prinzen war schon nicht mehr zu helfen. Noch während Esteron um sich schlug und biss, sich immer wieder herumwarf, eine neue Stellung und eine neue Richtung einnahm, um die Angreifer auf Abstand zu halten, wurde ihm klar, dass Kanura nicht wieder aufgetaucht war. Er war in den Fluten verschwunden.
Hra-Esteron wieherte gellend. Gleichzeitig entglitt ihm der Zauber, der ihm gegen die Übermacht der Uruschge geholfen hatte. Sofort erreichten ihn die Stöße der Hörner. Sein Entsetzen angesichts des Verlustes seines Sohnes hatte ihm Energie geraubt. Wenn er sein eigenes Leben hätte geben können, um Kanura zu retten, er hätte es getan.
In einem letzten Aufbäumen, einem Akt der Verzweiflung, sammelte Esteron seine magischen Kräfte und warf Verwirrung über seine Feinde. Einen Augenblick lang schien das zu wirken. Zwei der Uruschge trafen sich gegenseitig mit ihren Hörnern und verletzten sich schwerer, als der Fürst es vermocht hatte. Sie wichen brüllend zurück. Doch immer noch drangen drei Feinde auf ihn ein, befassten sich gar nicht mehr mit Perjanu, der halb tot am Boden lag und mit jedem röchelnden Atemzug laut vor Schmerzen stöhnte.
Es wurde Zeit, in den Klangnebel zu gehen. Noch sah Esteron ihn nicht, niemand hatte je berichten können, wie es war, die Klangfarben des Himmels zu durchschreiten, denn hatte man sie erst durchschritten, so war man jenseits der Kommunikation mit den Lebenden.
Er wollte nicht sterben. Noch nicht. Wer in Weisheit und Frieden lebte, mochte gelassener auf das Ende zugehen. Er hingegen war von Wut und Kampf erfüllt, von der Genugtuung über jede einzelne Verwundung, die er den Feinden mühsam hatte beibringen können. Im Vergleich zu seinen eigenen waren sie gering. Der Hass auf die Mörder seines Sohnes war nicht dazu angetan, ihn friedlich sterben zu lassen.
Ein lautes Donnern hob an, und Esteron fragte sich, ob es sich so ankündigte, wenn ein Fürst fiel. Doch dann sah er sie kommen, seine Sippe, seine Enygme und die Stärksten der Seinen. Vom Hügel jenseits des Flusses kamen sie herabgeprescht mit wehenden Mähnen und Schweifen.
Doch sie kamen zu spät. Er rutschte auf dem zertrampelten, feuchten Boden aus, fiel seitlich in eine Blutlache. Jetzt hatten die Feinde ein leichtes Spiel, brauchten ihn nur noch mit ihren Hörnern aufzuspießen. Für Magie hatte er keine Kraft mehr, nicht einmal erheben konnte er sich noch, trat nur um sich mit seinen Hufen, traf mal ins Leere, mal auf Knochen. Hilfe nahte. Wäre sie nur ein paar Minuten früher gekommen.
Die Welt flimmerte vor seinen Augen, dann wurde es um ihn herum schwarz.
Kapitel 15
Una rannte bereits; ihr Blick ging hin und her zwischen dem Phänomen im Bach, dem zusammengekrümmten Etwas an der Quelle und ihren Sachen, die daneben lagen. Das Wort » Etwas « nahm in ihrem Kopf Gestalt an, noch bevor sie begriff, dass es sich bei dem nassen, bunten Haufen tatsächlich um einen menschlichen Körper handelte.
Das war wirklich unheimlich.
Sie wollte hier niemanden treffen. Schon gar nicht jemanden, der aus dem Brunnen aufgetaucht war wie ein toter Froschkönig. Sie mochte nicht einmal darüber nachdenken, wie das möglich war. Gar nicht, vermutlich. Sicher war er nur hinter ihr den Weg heruntergeschlichen, als sie nicht hingesehen hatte, und dann ins Wasser eingetaucht. Was wusste sie schon, was irische Wallfahrer so machten? Selbstinduzierte Ganzkörpertaufe oder was auch immer! Seine bunten Kleider schienen darauf hinzudeuten, dass es sich hier um einen » Traveller « handelte, einen Angehörigen der nicht-sesshaften Bevölkerung Irlands, die noch in Wohnwagen umherzogen und – ohne mit den Sinti oder Roma verwandt zu sein – eine ganz ähnliche Kultur entwickelt hatten. In einem möglichst weiten Bogen lief sie um die Gestalt herum. Lange blonde Haare, zum Pferdeschwanz gebunden, klebten wie heller Seetang am Boden. Una wollte nicht genauer hinsehen, sie durfte keine Zeit verlieren, deshalb bückte sie sich
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