Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
mehr etwas gut werden würde. Und meistens war das auch so.
Langsam, ganz langsam wurde ihr Keuchen leiser, und die Welt wirbelte nicht mehr um sie herum, als fielen alle Bruchstücke der Wahrnehmung in einem Kaleidoskop hin und her zu wirren Mustern. Ihre Gedanken waren wie Brei. Sie wusste nicht, was sie denken sollte, brachte es nicht einmal fertig, Einzelheiten aus ihrem Gedächtnis in die richtige Reihenfolge zu bekommen.
Fahrrad, dachte sie. Das hatte sie zurückgelassen. Wo? Und wo war sie jetzt? Wieso war sie im Trocknen? Sie hörte von nicht allzu fern das Geplätscher eines Gewässers. Sie mussten zurück sein, aufgetaucht. Hier musste irgendwo das verletzte Pferd sein. Vielleicht war es schon tot?
Erst jetzt fiel ihr auf, wie düster es war. Eben hatte noch die Abendsonne flach am Himmel gestanden. Nun war es schon beinahe finster. Sie bemerkte, dass sie auch deshalb nichts sah, weil sie immer noch auf dem Boden saß und in den Armen des Irren lag.
Er hatte sie nicht umgebracht. Er hatte sie vermutlich sogar gerettet. Warum versuchte man zuerst, jemanden zu ertränken, um ihn dann zu retten? Was für einen perversen Sinn ergab das?
Ganz behutsam versuchte sie, sich aus seiner Umarmung zu lösen, und hoffte, dadurch nicht den nächsten Aggressionsschub auszulösen. Wenn sie jetzt etwas falsch machte, würde er vielleicht doch noch beenden, was er angefangen hatte.
» Geht es dir besser? « , fragte er besorgt, und sie hätte ihm am liebsten ins Gesicht geschlagen. Als wäre er nicht an all dem schuld! Er hatte sie doch fast ersäuft wie eine Katze.
Sie blickte hoch, konnte seine Gesichtszüge in der hereinbrechenden Dunkelheit kaum noch genau erkennen. Dafür sah sie den Abendhimmel über sich, blauschwarz und voller Sterne. So viele Sterne hatte sie noch nie gesehen. Auf dem Land sah man mehr als daheim in der Großstadt, aber das hier? Das war wie aus einem Disneyfilm, sehr unwirklich.
Mehrere milchstraßenähnliche Sternenbänder zogen sich über den Himmel, verbanden sich zu Mustern. Ein Funkeln und Glitzern ging von ihnen aus, und zusammen mit dem riesigen Mond gaben sie mehr Licht, als Una für möglich gehalten hatte.
Die Schönheit des Anblicks konnte Una keine Sekunde genießen, denn die Unterschiede zu dem, was sie gewohnt war, nachts himmelwärts zu sehen, waren zu deutlich. Der Mond hatte kein Gesicht. Wie konnte der Mond kein Gesicht haben? Oder brauchte sie eine Brille? Doch sie sah ihn ja nicht unscharf. Er war groß und rötlich und hatte nur wenige Schatten auf der Oberfläche, die so gar nicht nach einem herunterblickenden Antlitz aussahen.
Es war genau in diesem Augenblick, dass sie unkontrolliert zu zittern begann. Der Kerl hatte sie fast umgebracht. Es war dunkel, und sie war allein mit einem gewaltbereiten Irren, der irgendwo ein riesiges Messer hatte. Es war still. Niemand schien in der Nähe zu sein, der ihr helfen konnte.
Und der Mann im Mond war fort.
Sie versuchte aufzuspringen, doch die Arme des Mannes waren noch um sie gelegt. Sie trat nach ihm. Er fing ihren Fuß und zog ihn nach oben, und wieder fiel sie rückwärts, landete auf dem Rücken, eine Position, die ihr noch viel mehr Angst einjagte als alles andere.
» Nein! « , schrie sie, und da war er auch schon über ihr, drückte ihr die Hand auf den Mund.
» Leise! « , zischte er. » Um Talunys’ willen, sei leise! Er könnte noch durchkommen! «
Una wusste nicht, was er meinte. Sie wand sich in seinem Griff, versuchte, ihm in die Hand zu beißen, trat nach ihm. Sie hatte keine Chance. Er war viel stärker, drückte sie erneut nieder.
» Nun lass das schon! « , befahl er unwirsch. » Ich bin nicht dein Feind. Wir werden beide sterben, wenn sie uns hier finden. «
Das ergab noch viel weniger Sinn. Der Mann war paranoid. » Sie « – das waren immer die anderen, vor denen Menschen mit Verfolgungswahn davonliefen. » Sie « waren also hinter ihnen her. Una war sich sicher, dass niemand hinter ihr her war. Niemand hatte sie gefährdet oder verfolgt – bis auf den Mann, der sie fast umgebracht hatte, um sie dann auf der Wiese neben dem Bach wiederzubeleben.
Wieso lebte sie noch? Was hatte er mit ihr vor? Wie schrecklich würde es werden?
» Wir müssen hier weg! « , sagte er nun und hob sie einfach auf die Füße. Die gewaltige Stärke, die er dabei an den Tag legte, ängstigte sie erneut. Was sollte sie nur gegen diesen Irren ausrichten?
Wenigstens hatte er ihren Mund losgelassen.
» Was willst du von
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