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Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Titel: Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ju Honisch
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Farben, kunstvoll in Stein gemeißelt, verliehen den Säulen ein organisches Aussehen, wie ein Ziergarten, der gen Himmel strebte, ohne Strenge, versehen mit der ganzen Pracht des Natürlichen. Die Fresken an den Wänden gaben Szenen aus dem Leben der Tyrrfholyn wider, tollende und spielende Junghörner, singende Einhörner im magischen Kreis, Bilder von Liebe und Leidenschaft und von Festivitäten, die einen fast üppigen Frieden aufzeigten – und schließlich auch Menschen in bunten Gewändern, die das Leben in Talunys mit ihrer Kunstfertigkeit bereicherten und somit eine nicht mehr wegzudenkende Bedeutung erlangt hatten.
    Doch das Herz des Saals war der Raum in der Mitte. Dieser war, frei von Säulen, einem riesigen Atrium gleich. Das Besondere an ihm: Er war nur teilweise überdacht und öffnete sich zur Mitte hin frei in den Himmel, ohne dass jemals ein Regentropfen auf den mit Mosaiken verzierten Boden gefallen wäre, der in allen Grüntönen der Natur verwobene Schnörkelmuster gen Mitte wachsen ließ. Was das Wetter abhielt, die Öffnung darüber als Einladung zu betrachten, wussten die Menschen nicht. Sie wussten nur, dass sich die Tyrrfholyn wohler fühlten, wenn sie das Himmelszelt über sich sehen konnten – und die Baumeister bauten für die Bauherren, auch im Menschenreich war das stets so gewesen.
    So war die Kuppel, die sich über das Zentrum der Halle bog, nur angedeutet, verlor sich dann in gläsern filigranen Streben und Pfeilern und endete im freien Firmament.
    Die Anwesenden hatten sich in den vier Seitenschiffen ihrem Rang nach angeordnet, die Ra-Yurich, die Re-Gyurim, die Re-Hoyhn und die Menschen, die im Vergleich nur ein kleines Häuflein Delegierter stellten. Ihren ernsten Gesichtern war abzulesen, dass sie sich der Ehre, am Rat der Tyrrfholyn teilzunehmen, bewusst waren, obgleich es normal geworden war, dass die herrschenden Einhörner auch ihre Meinung und ihren Rat zu schwierigen Fragen einholten. Man schätzte die andere Sichtweise – und sei es nur als Gegengewicht zu dem, worüber man nicht mehr nachdachte, weil es als gegeben betrachtet wurde.
    Als Esteron den Blick schweifen ließ, sah er, dass von den Tyrrfholyn außer den eingeteilten Bewachern alle Abgesandten gekommen waren. Ihr Tagen durfte die Sicherheit von Kerr-Dywwen nicht beeinträchtigen, denn das war das Erste, was Enygme entschieden hatte: Sie hatte Wachen ausgesandt, die sowohl die äußeren Grenzen des Hofs als auch die Gebäude und vor allem die Brunnen und Wasserläufe beobachten sollten.
    Esteron fühlte, dass Perjanu leicht zitterte. Selbst die Heilung durch so viele wohlgesonnene Tyrrfholyn hatte ihn nicht vollends wiederhergestellt. Er wirkte alt und ein wenig zerbrechlich, und Esteron machte sich Sorgen um ihn. Doch er machte sich Sorgen um sie alle, umso mehr, als keine Einigkeit zwischen den Tyrrfholyn herrschte. Mitten in der immer wieder erstaunlichen Schönheit dieses Gebäudes fügte sich nicht friedliche Einigkeit in das Bild, um es zu vervollkommnen, sondern Uneinigkeit und wirre Gedanken spalteten die Versammlung.
    Vielleicht war es falsch gewesen, jetzt in der Krise die strategische Führung an Enygme zu übergeben. Ihre Magie war stark, ihre Voraussicht beeindruckend und ihre Klugheit bewundernswert. Doch sie hatte ihren Rang nie bewusst in Szene gesetzt. Esteron schon. Er war Fürst, Leithengst, Entscheider, Herrscher. Er hatte die Titel gelebt, obgleich sie im Frieden kaum etwas bedeuteten. Aber dessen war er sich selbst vielleicht bewusster gewesen als jene, die ihn in seiner Führungsrolle akzeptierten.
    Nun herrschte Krieg – und er hatte im Kampf versagt. Vielleicht hätte man ihm dieses Versagen gar nicht vorgeworfen, denn niemand der Versammelten hätte in der gleichen Situation ohne Hilfe überlebt. Und niemand hätte den Prinzen des Reiches retten können – oder auch nur behauptet, das zu vermögen. Doch nun war es für Esteron zu spät, seine Entscheidung rückgängig zu machen. Kleinlich würde das wirken, als hinge er an der Macht um der Macht willen. Der Gedanke an sich widerstrebte ihm bereits. Macht als Selbstzweck befleckte die Reinheit des Seins, die die Tyrrfholyn für sich in Anspruch nahmen – oder doch immerhin anstrebten. Unfehlbar waren sie nicht. Auch dessen war sich Esteron bewusst. Die Trutzberge waren hier stete Mahnung.
    Die Tyrrfholyn waren mächtig. Verglich man sie mit den Menschen, war ihre Überlegenheit allzu deutlich: Sie waren stärker, schneller und – das

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