Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
jungen Mannes musste er mittleren Alters sein, eine genauere Einschätzung fiel ihr jedoch schwer, er wirkte beinahe zeitlos. Seine dunkelblauen Augen sahen einen so direkt an, als würden sie durch alle zivilisatorischen Schutzschilde hindurchblicken können. Trotz seines massiven Körperbaus bewegte er sich mit federnder Eleganz.
Er war – sie versagte sich das pubertäre Wort » heiß « – beeindruckend. Geheimnisvoll. Mysteriös. Und eben auch seltsam unschuldig in seinem Staunen über die ganz alltäglichsten Dinge dieser Welt.
Das verschlafene Dorf in der Nähe von Irenes Mietcottage erfüllte die beiden mit absoluter Verwunderung, doch sie verkniffen sich jeden Kommentar mit spürbar eiserner Zurückhaltung, blickten nur wild zwischen den Autos, Mopeds und Läden und einer mit blinkenden Glühbirnchen verzierten Mariengrotte hin und her.
» Hier wohnst du? « , fragte der Lehnsherr, als sie schließlich am Cottage aus dem Auto stiegen, so unbeholfen, als wüssten sie nicht, welches Bein sie zuerst aus dem Kleinwagen schieben sollten.
» Nur im Urlaub « , erklärte Irene. » Sonst lebe ich in einer Großstadt in Deutschland. Aber im Sommer fahren wir immer hierher. Wegen der Musik und der Landschaft. Und weil es hier so ruhig ist. Ein bisschen die Seele baumeln lassen. «
Perjanu nickte.
» Eine schöne Umschreibung. Aber im Moment baumelt deine Seele nicht, Irene Merkordt. «
Nein. Seit Una verschwunden war, baumelte da nichts. Irenes Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
Perjanu setzte sich auf die alte Holzbank vor dem Haus und streckte das Gesicht in die Sonne. Sein sandfarbenes Haar stand hoch vom Kopf ab in einer Frisur, die sowohl seinem Alter als auch in nicht unerheblichem Maß der Schwerkraft trotzte.
» Müde? « , fragte sein Freund besorgt.
» Sehr. Es waren … ereignisreiche Tage. Und ich bin nicht mehr der Jüngste. «
Der Lehnsherr nickte. » Ruh dich aus. Irene und ich werden uns ein bisschen unterhalten. «
Perjanu nickte, zog die Beine an und machte es sich auf der Bank gemütlich. Irene wollte ihm noch eine Decke anbieten oder ein Bett, aber da drang schon leichtes Schnarchen zu ihr herüber.
» Das kann doch nicht bequem sein! « , murmelte sie.
» Das ist schon in Ordnung. « Esteron lächelte. Und Irene vergaß, was sie ihn gerade fragen wollte.
» Kommt … kommen Sie … kommt doch rein « , sagte sie stattdessen und war sich nicht sicher, wieso sie ihn gerade mit diesen Worten angeredet hatte.
» Sprich mich als Freund an, denn das bin ich « , sagte er. Sie nickte. Gut. Das war geklärt. Er hatte ihr Dilemma wohl verstanden.
» Hast du Hunger, Esteron? Ich hätte noch etwas Salat. «
» Salat klingt gut. «
Er folgte ihr durch die niedrige Tür ins Haus, setzte sich wie selbstverständlich auf das kleine, etwas schäbige Sofa, das in dem altmodisch eingerichteten Wohn- und Küchenraum stand, das fast das ganze Erdgeschoss des Cottages einnahm. Mit einem Mal wurde Irene bewusst, wie winzig und wenig repräsentativ das Häuschen war. Das war ihr noch nie aufgefallen.
» Was für ein Dressing hättest du gerne am Salat? «
» Dressing? «
» Soße. «
» Keine. Am liebsten einfach so. «
Sie fragte nicht nach, auch wenn sie das seltsam fand. Sie stellte die Schüssel, die sie bereits am Morgen vor ihrem Ausflug zur Quelle vorbereitet hatte, auf das kleine Beistelltischchen, und er fischte sich mit der Hand ein Salatblatt nach dem anderen heraus und knabberte es andächtig.
» Was hat es auf sich mit den heiligen Quellen? « , fragte er.
» Nun, in diesem Land gibt es viele. Manche sind sehr berühmt, andere sind nur lokal bekannt. Nachdem der Katholizismus hier seit dem Frühmittelalter alles in das kirchliche Dogma integriert hat, was man anders nicht aus dem heidnischen Weltbild der Bewohner wegkriegte, wurden die Quellen irgendwann mal Heiligen zugesprochen. Die Zeremonien, das Pilgern zur Quelle – das ist jetzt alles christlich. «
» Religiös? « , fragte er.
» Sehr. «
» Immer ein schwieriges Thema bei den Menschen « , sagte er und schob sich ein weiteres Salatblatt zwischen die Zähne. » So viele unterschiedliche Ideen, die sich alle um die Wahrheit bemühen und sich dann doch widersprechen. «
» Bist du nicht religiös? « , fragte sie.
» Meine Weltanschauung ist vielleicht etwas anders, aber auch von dem Gedanken getragen, das Wahre und Richtige anzustreben. Aber erzähle mir mehr von den Quellen. «
» So furchtbar viel weiß ich
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