Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)
nicht begriff. Niemand hatte sie je darauf vorbereitet, wie man angemessen reagierte, wenn man von einer Herde übellauniger Märchengestalten entführt wurde. Doch langsam tauchte aus den Tiefen ihres Wesens ihr Trotz auf.
Sie räusperte sich und fragte dann: » Was soll das hier? «
Torgar schnaubte verächtlich und ließ ihre Frage unbeantwortet.
Una sah sich um und bemerkte, dass Kanura zwischen zwei Kentauren stand, die ihn nicht aus den Augen ließen.
» Kanura « , flüsterte sie und konnte kaum fassen, dass sie vor dem goldfarbenen Hengst bis vor Kurzem fast genauso viel Angst gehabt hatte – beziehungsweise vor dem blonden Mann.
» Ich bin bei dir, Una « , hörte sie seine Stimme in ihrem Kopf.
Und auch wenn sie nicht sah, wie er ihr helfen sollte, trösteten sie seine Worte ein wenig.
» Gehört sie dir, Einhorn? « , fragte nun der Graue.
» Ich bin für sie verantwortlich « , gab Kanura zurück.
» Dann gib Acht, dass du uns nicht verärgerst. Wir werden sie für deine Fehltritte büßen lassen. Solltest du versuchen, dich davonzumachen, werden wir interessante Wege finden, das Menschenweib in ihre nächste Existenzform zu schicken. Falls sie eine hat. Vermutlich erlischt sie nur. «
Una blickte ängstlich über die Menge der Kentauren.
» Ich werde machen, was ihr sagt « , gab Kanura zur Antwort. » Tut ihr nichts. Menschen sind zerbrechlich. «
» Ich weiß. « Der Graue grinste. » So zerbrechlich. « Er wandte sich dem Fuchs zu. » Komm jetzt. Lauf los. Vorwärts! «
Die Kentaurengruppe formierte sich um Una, während Kanura weiter von ihr abgedrängt wurde.
» Keine Magie, Tyrrfholyn. Denke nicht mal dran. Jeder Versuch kostet deine kleine Menschenfreundin einen Finger. Und sie hat nur zehn davon. «
Das Einhorn nickte.
Magie, hatte der Kentaur gesagt. Kanura konnte Magie wirken? Hatte er die bereits angewandt? Seine seltsame Selbstheilung an der heiligen Quelle mochte magisch gewesen sein. Später hatte er ihr etwas vorgesungen, woraufhin es ihr besser gegangen war. Es musste also einen Zusammenhang geben. Schließlich war sie ja auch in einer fremden Welt gelandet, und das musste man wohl auch Magie nennen, wenn es nicht Quantenphysik war.
Der Arm des roten Kentauren schubste sie hart vorwärts.
» Renn! « , befahl er. Una rannte. Fast nebenbei stellte sie fest, dass sie sich wohl nichts gebrochen hatte, sondern nur blau und blutig geschlagen war. Sie konnte sich bewegen, ja sogar laufen. Es tat zwar höllisch weh, doch die Drohung, dass man ihr noch viel schlimmere Schmerzen zufügen würde, sollte sie nicht mithalten können, beschleunigte ihre Schritte.
» Wo bringt ihr uns hin? « , hörte sie Kanura hinter sich fragen.
» Du wirst schon sehen « , lautete die Antwort.
Ein Stoß des Fuchses ließ Una erneut stürzen, und vor Schmerz schrie sie auf.
» Ich tue, was ihr wollt, also lasst sie gefälligst in Ruhe! « , begehrte das Einhorn auf.
Kräftige Arme zogen Una auf die Füße. Sie fühlte, wie ihre Hosenbeine an den Knien klebrig wurden.
» Torgar! So brauchen wir ewig! « , murrte der Fuchs.
» Dann lass sie bei dir aufsitzen! « , gab Torgar zurück.
» Ich bin kein Gaul « , begehrte der Fuchs auf.
» Aber du bist Mitglied meiner Herde. Du tust, was ich dir sage! «
Der Graue blickte wild und stolz über die Gruppe.
Rote Arme zerrten Una grob hoch und schoben sie an der Menschenschulter vorbei zum Pferderücken.
» Steig auf. Und wenn du runterfällst, schwöre ich, kostet es dich Knochen! « Er stampfte vielsagend mit dem Huf auf die Erde.
Mühsam erklomm Una den sattellosen Pferderücken. Wenigstens war diese Kreatur kleiner als Kanura. Doch Una tat gut daran, sich zu merken, dass auch dieser kleinere Kentaur mit der Kraft von mindestens einer Pferdestärke zutreten konnte. Sie wusste nicht, wie sie sich festhalten sollte, wollte den menschlichen Oberkörper nicht berühren. Doch vermutlich würde ihr nichts anderes übrigbleiben. Sie wollte keinen physischen Kontakt mit diesem Wesen. Seine brutale Art war ihr widerlich, und sie schwitzte vor Angst.
Wenn Dinge ganz schlimm sind, sagte ihre Mutter immer, dann zählt man das auf, das noch gut ist. Einzeln. Bewusst.
Bisher hatte Una die psychotherapeutische Ersatzmagie ihrer Mutter nie ernst genommen, aber jetzt fing sie an aufzuzählen.
Sie hatte noch alle Finger. Ihre Knochen waren noch ganz. Sie war am Leben. Die Frage war nur, wie lange noch?
Kapitel 35
Dem älteren Herrn, der auf den seltsamen
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