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Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition)

Titel: Die Quellen der Malicorn: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ju Honisch
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Einhorn in Menschgestalt heran. Was immer bisher geschehen war, er war stets stark und ruhig geblieben. Was hatte ihn so fertiggemacht? Una ließ die Geschehnisse noch einmal vor ihrem inneren Auge ablaufen, versuchte zu begreifen. » Horn « hatten die Kentauren die Waffe genannt. Hatte Kanura damit sein Horn verloren? Ging das überhaupt? Er hatte mit der Elfenbeinwaffe gekämpft, drüben auf der anderen Seite. Da war es eine Waffe gewesen, und die konnte man immer verlieren oder beschädigen. Hieß das, dass sie nicht an den Einhörnern festgewachsen war, wenn sie in Menschengestalt waren? In der Tat hatte sie nie gesehen, wo er die Elfenbeinklinge hergezogen hatte, nur dass er sie die meiste Zeit nicht in der Hand gehabt hatte.
    Vorsichtig streckte sie den unverletzten Arm nach Kanura aus, berührte ihn an der nackten Schulter. Seine Haut war eiskalt und klamm.
    » Kanura! « , sagte sie noch einmal, diesmal mit ebenso viel Flehen wie Besorgnis in der Stimme. Er war schuld, dass sie hierher verschleppt worden war. Und sie war auch schuld, denn wäre sie nicht von seinem Rücken gefallen, wäre er den Feinden vielleicht entkommen. Sie wollte nicht an seinem Schmerz schuld sein. Sie wollte nicht einmal, dass er Schmerzen hatte. » Sag doch was! Kann ich etwas für dich tun? Was hat das alles zu bedeuten? «
    Kanura sagte immer noch nichts. Sie zog den Rucksack zu sich heran und fing an, darin herumzuwühlen. Handy. Kamera. Schminktäschchen. Flötenkasten. Wasserflasche. Ein Apfel. Eine Großpackung Müsliriegel. Ein Doppelpack Tempos.
    Sie zog zwei Taschentücher aus dem Päckchen, schob vorsichtig die Strickjacke von der Schulter und zog den zerschnittenen T-Shirt-Ärmel von der Wunde. Nicht tief, konstatierte sie sachlich noch einmal, nur um sich zu beruhigen. Ihr Schrecken war größer als die Verwundung gewesen. Es blutete nicht mehr stark. Sie drückte die Papiertaschentücher auf die Wunde, die dort kleben blieben.
    Dann wandte sie sich wieder dem Einhorn zu.
    » Du musst mir jetzt alles erklären! « , flehte sie. » Ich verstehe nichts. Und bitte, bitte stirb nicht. Lass mich nicht mit diesen Irren allein! Ich habe Angst. Ich habe ganz fürchterliche Angst. «
    Kanura bewegte sich nicht, aber es klang, als würde seine Atmung etwas ruhiger werden. Nach ein paar Sekunden richtete er sich auf, nahm die Hände vom Boden, griff nach ihrer gesunden Hand und hielt sie fest.
    » Ich habe auch Angst, Una « , sagte er. Dabei bewegten sich seine riesigen braunen Augen unstet hin und her – fast konnte man zu viel Weiß darin sehen, wie bei einem nervösen Pferd. » Und ich wünschte, ich könnte dir alles erklären. Doch ich weiß selbst nicht, was hier vorgeht. Es tut mir leid. Es tut mir unendlich leid, dass ich dich hier mit hineingezogen habe. «
    Sie krallte sich an seine Hand.
    » Was wollen die von uns? Warum sind die so wütend? Was hast du ihnen getan? «
    » Ich habe ihnen gar nichts getan. Kentauren kenne ich selbst nur aus Legenden. Es gab schon länger keine mehr in dem Teil von Talunys, aus dem ich stamme. Es heißt in den Liedern, sie seien wiedergeborene Tyrrfholyn, die den Ansprüchen des Lebens nicht genügt haben. Ich habe das für ein Märchen gehalten, genau wie die Nymphen und die Uruschge. Doch die Märchen haben uns eingeholt und sind schaurige Wirklichkeit geworden. «
    » Aber was wollen die … diese Scheusale von uns? «
    » Ich weiß es nicht. Vermutlich wollen sie wieder Tyrrfholyn sein. «
    » Und deshalb klauen sie dir dein Horn? «
    Er zuckte zusammen, und ein Beben durchlief ihn.
    » Können sie denn damit etwas anfangen? « , fragte Una weiter.
    » Ich denke nicht, aber ich bin mir nicht sicher. Hörner sind … Seelenmacht, Schlüssel zum Sein und zu unseren Fähigkeiten; sie sind … persönlich. Man gibt sein Horn keinem anderen, denn er kann es zerstören. Und damit kann er mich zerstören. Das Horn ist Teil von mir. «
    Etwas mühsam holte er Luft, atmete dann tief aus und wieder ein.
    » Lass mich deine Schulter ansehen, Una. « Er klang schon fast wieder normal, doch Una spürte das leichte Zittern seiner Hand, die sie immer noch festhielt.
    » Es ist kein tiefer Schnitt « , sagte sie. » Sie haben dich nur erwischt, weil du zu mir zurückgekommen bist « , fuhr sie fort. » Und sie haben dir das Horn genommen, weil du mich schützen wolltest. «
    » Ich bin für dich verantwortlich « , sagte er knapp.
    » Ich hatte solche Angst vor dir « , flüsterte Una. » Ich hatte

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