Die Rache der Jagerin
wem die wohl gehört hatten.
Am anderen Ende des Tresens fiel mir das gerahmte Foto ins Auge, das ich schon einmal betrachtet hatte. Ich nahm es in die Hand, und als ich Alex’ Gesicht ansah, das mich aus dem Bild heraus anlächelte, erfasste mich eine Woge der Traurigkeit. Chalice hatte ihn seit Jahren gekannt und sehr gerngehabt. In meinen Knochen spürte ich die alte Verbundenheit mit diesem Mann, den ich laut meinem Verstand erst vor drei Tagen kennengelernt hatte. Ich wollte seinen Tod nicht länger betrauern. Das würde Alex nicht zurückbringen oder seinen Tod weniger tragisch machen. Ich wollte das alles hinter mir lassen und mich auf das Jetzt konzentrieren.
»Ich weiß noch nicht einmal, ob er Familie in der Gegend hat«, sagte ich, und diese Bemerkung überraschte mich selbst.
Der Kühlschrank schloss sich, und kalte Finger legten sich um mein Handgelenk. Als ich aufschaute, sah ich in Wyatts Augen. Glühend. Voller Mitleid. »Du musst dich aus seinem Leben raushalten, Evy«, meinte er. »Du schleppst zwar Chalices Erinnerungen mit dir herum, aber davon darfst du dir nicht den Verstand vernebeln lassen.«
Ich entriss ihm meine Hand. »Ich lasse mir nichts vernebeln, Wyatt. Glaubst du etwa, ich will mich mit ihren Gefühlen und Erinnerungen herumärgern? Ich habe schon genug eigene Probleme. Aber dank dir muss ich mich jetzt auch noch um ihren Scheiß kümmern, und das kann ich nicht einfach ignorieren.«
Er zuckte zusammen. »Willst du, dass ich mich ein weiteres Mal dafür entschuldige?«
»Nein, du hast dich so oft entschuldigt, dass es für ein ganzes Leben reicht.« Ich lugte zu den in Frischhaltefolie eingewickelten Steaks hinüber, die er in die Spüle gelegt hatte. »Vergiss es einfach. Geh duschen, ich mache uns das Frühstück.«
Der Streit schien vorbei zu sein, bevor er richtig angefangen hatte. Doch als Wyatt den Tresen umrundete und an mir vorbeiging, sagte er: »Vergiss es einfach? Wenn du es immer wieder aufs Tapet bringst, kann ich das wohl kaum.«
Ich ließ diese Bemerkung unkommentiert, bis er schließlich die Tür zum Badezimmer hinter sich zuknallte, dass die Wände wackelten. Offenbar wollte er mich unbedingt verrückt machen – allerdings nicht auf die erotische Weise, die ich schmachtend mit einem gehauchten »Ich liebe dich« erwidern würde. Sondern eher auf die Art, dass ich mir die Haare raufte und so lange mit ihm stritt, bis wir uns gegenseitig an die Gurgel gingen. Es wäre schön, wenn wir uns eines Tages einmal ganz normal unterhalten könnten. Eine Unterhaltung ohne Schuldgefühle, Tod oder Dregs in irgendeiner Form.
»Gut gemacht, du bist sauber.«
Ich fuhr hoch und drehte abrupt den Kopf nach rechts. In der Wohnungstür stand Phin. Verdammt, ich hatte gar nicht gehört, dass er die Tür geöffnet hatte. Nun trat er ein und schloss sie hinter sich. Noch immer waren seine Flügel spurlos verschwunden – auf welche eigenartige Weise diese Gestaltwandler ihre Körper auch immer verformen mochten. Er hatte sich ein schwarzes Polohemd angezogen, und als er auf mich zuging, kochte die Wut in mir hoch.
»Musst du eigentlich ständig Dinge nehmen, die dir nicht gehören?«, fragte ich.
Beim Sofa blieb er stehen und legte verwirrt den Kopf auf die Seite. »Ich habe den Müll rausgetragen«, erwiderte er. »Ich hatte nicht gedacht, dass du ein gesteigertes Interesse …«
»Das Hemd, Phin.«
Er sah erst das Hemd an, dann mich. Seine Verwirrung lichtete sich, und er verzog den Mund zu einem kleinen mitleidigen Lächeln. »Ich ziehe es aus. Ich wollte dich nicht verärgern.«
Verflucht, ich war tatsächlich verärgert, ohne dass ich es wollte. Er hatte sich aus Alex’ Zimmer ein Hemd genommen. Na und? Alex war tot. Ihn würde es nicht kümmern, wenn jemand anders seine Sachen trug. Scheiße, Wyatt würde ebenso saubere Klamotten brauchen, auch wenn Alex’ Hosen ihm wahrscheinlich ein bisschen zu groß waren. Ich musste loslassen und durfte mich emotional nicht an seine Gegenstände klammern. Damit würde ich mir nur Probleme einhandeln.
»Behalte es«, sagte ich. »Ist jetzt sowieso egal.«
»Dir ist es nicht egal.«
»Eigentlich schon.«
Er blinzelte und legte den Kopf auf die andere Seite, wie es eigentlich nur Vögel machen. Auch Danika hatte das andauernd gemacht, allerdings hatte ich diese Geste damals nicht für eine Eigenart ihrer Spezies gehalten. Immerhin kannte ich auch Menschen, die sich so bewegten. Bei Phin wirkte es allerdings anders und ganz
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